Ein neues Wirtschaftssystem: Gemeinwohlökonomie

Laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung wünschen 88 Prozent der Deutschen und 90 Prozent der ÖsterreicherInnen eine „neue Wirtschaftsordnung“. Doch was kommt nach dem Kapitalismus? Christian Felber hat dazu eine Idee: Die Gemeinwohlökonomie. Sie baut auf den Werten auf, die auch unsere zwischenmenschlichen Beziehungen gelingen lassen: Vertrauensbildung, Verantwortung, Mitgefühl, gegenseitige Hilfe und Kooperation.

Diese Idee ist nicht neu, denn das Gemeinwohl ist sogar schon in Verfassungen festgeschrieben: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl“ , heißt es z.B. in der bayerischen Verfassung. Das klingt fast wie ein Hohn, wenn wir täglich erleben, wie die Politik und das gesamte System hingegen das Gewinnstreben und die Konkurrenz befördern. So gilt der Finanzgewinn als allentscheidendes Kriterium für unternehmerischen Erfolg. In der Gemeinwohl-Ökonomie muss nicht „letztendlich das Geld“ stimmen, sondern die Gemeinwohl-Bilanz. Denn nur dann geht es den Menschen und allen Wesen gut.

Die erste Version des Modells inklusive Gemeinwohl-Bilanz wurde von Christian Felber und einem Dutzend UnternehmerInnen aus Österreich 2009/2010 entwickelt. Inzwischen unterstützen 612 Unternehmen aus 13 Staaten, 45 PolitikerInnen, 110 Org./Vereine und 1729 Privatpersonen das Projekt. Credo: „Die Gemeinwohl-Ökonomie ist weder das beste aller Wirtschaftsmodelle noch das Ende der Geschichte, nur ein nächster möglicher Schritt in die Zukunft. Sie ist ein partizipativer und entwicklungsoffener Prozess und sucht Synergien mit ähnlichen Ansätzen. Durch das gemeinsame Engagement zahlreicher mutiger und entschlossener Menschen kann etwas grundlegend Neues geschaffen werden.“

20 inhaltliche Eckpunkte der Gemeinwohlökonomie

1. Die Gemeinwohl-Ökonomie beruht auf denselben Grundwerten, die unsere Beziehungen gelingen lassen: Vertrauensbildung, Wertschätzung, Kooperation, Solidarität und Teilen. Nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen sind gelingende Beziehungen das, was Menschen am glücklichsten macht und am stärksten motiviert.

2. Der rechtliche Anreizrahmen für die Wirtschaft wird umgepolt von Gewinnstreben und Konkurrenz auf Gemeinwohlstreben und Kooperation. Unternehmen werden für gegenseitige Hilfe und Zusammenarbeit belohnt. Kon(tra)kurrenz ist möglich, bringt aber Nachteile.

3. Wirtschaftlicher Erfolg wird nicht länger mit (monetären) Tauschwertindikatoren gemessen, sondern mit (nichtmonetären) Nutzwertindikatoren. Auf der Makroebene (Volkswirtschaft) wird das BIP als Erfolgsindikator vom Gemeinwohl-Produkt abgelöst, auf der Mikroebene (Unternehmen) die Finanzbilanz von der Gemeinwohl-Bilanz. Diese wird zur Hauptbilanz aller Unternehmen. Je sozialer, ökologischer, demokratischer und solidarischer Unternehmen agieren und sich organisieren, desto bessere Bilanzergebnisse erreichen sie. Je besser die Gemeinwohl-Bilanz-Ergebnisse der Unternehmen in einer Volkswirtschaft sind, desto größer ist das Gemeinwohl-Produkt.

4. Die Unternehmen mit guten Gemeinwohl-Bilanzen erhalten rechtliche Vorteile: niedrigere Steuern, geringere Zölle, günstigere Kredite, Vorrang beim öffentlichen Einkauf und bei Forschungsprogrammen et cetera. Der Markteintritt wird dadurch für verantwortungsvolle AkteurInnen erleichtert; und ethische, ökologische und regionale Produkte und Dienstleistungen werden billiger als unethische, unökologische und globale.

5. Die Finanzbilanz wird zur Mittelsbilanz. Finanzgewinn wird vom Zweck zum Mittel und dient dazu, den neuen Unternehmenszweck (Beitrag zum allgemeinen Wohl) zu erreichen. Bilanzielle Überschüsse dürfen verwendet werden für: Investitionen (mit sozialem und ökologischem Mehrwert), Rückzahlung von Krediten, Rücklagen in einem begrenzten Ausmaß; begrenzte Ausschüttungen an die MitarbeiterInnen sowie für zinsfreie Kredite an Mitunternehmen. Nicht verwendet werden dürfen Überschüsse für: Investitionen auf den Finanzmärkten (diese soll es gar nicht mehr geben), feindliche Aufkäufe anderer Unternehmen, Ausschüttung an Personen, die nicht im Unternehmen mitarbeiten, sowie Parteispenden. Im Gegenzug entfällt die Steuer auf Unternehmensgewinne.

6. Da Gewinn nur noch Mittel, aber kein Ziel mehr ist, können Unternehmen ihre optimale Größe anstreben. Sie müssen nicht mehr Angst haben, gefressen zu werden und nicht mehr wachsen, um größer, stärker oder profitabler zu sein als andere. Alle Unternehmen sind vom allgemeinen Wachstums- und wechselseitigen Fresszwang erlöst.

7. Durch die Möglichkeit, entspannt und angstfrei die optimale Größe einzunehmen, wird es viele kleine Unternehmen in allen Branchen geben. Da sie nicht mehr wachsen wollen, fällt ihnen die Kooperation und Solidarität mit anderen Unternehmen leichter. Sie können ihnen mit Wissen, Know-how, Aufträgen, Arbeitskräften oder zinsfreien Krediten helfen. Dafür werden sie mit einem guten Gemeinwohl-Bilanz-Ergebnis belohnt – nicht auf Kosten anderer Unternehmen, sondern zu deren Nutzen. Die Unternehmen bilden zunehmend eine solidarische Lerngemeinschaft, die Wirtschaft wird zu einer Win-win-Anordnung.

8. Die Einkommens- und Vermögensungleichheiten werden in demokratischer Diskussion und Entscheidung begrenzt: die Maximal-Einkommen auf zum Beispiel das Zehnfache des gesetzlichen Mindestlohns; Privatvermögen auf zum Beispiel zehn Millionen Euro; das Schenkungs- und Erbrecht auf zum Beispiel 500 000 Euro pro Person; bei Familienunternehmen auf zum Beispiel zehn Millionen Euro pro Kind. Das darüber hinaus gehende Erbvermögen wird über einen Generationenfonds als „Demokratische Mitgift“ an alle Nachkommen der Folgegeneration verteilt: gleiches „Startkapital“ bedeutet höhere Chancengleichheit. Die genauen Grenzen sollen von einem Wirtschaftskonvent demokratisch ermittelt werden.

9. Bei Großunternehmen gehen ab einer bestimmten Größe (zum Beispiel 250 Beschäftigte) Stimmrechte und Eigentum teil- und schrittweise an die Beschäftigten und die Allgemeinheit über. Die Öffentlichkeit könnte durch direkt gewählte „regionale Wirtschaftsparlamente“ vertreten werden. Die Regierung soll keinen Zugriff/kein Stimmrecht in öffentlichen Unternehmen haben.

10. Das gilt auch für die Demokratischen Allmenden, die dritte Eigentumskategorie neben einer Mehrheit (kleiner) Privatunternehmen und gemischt-besessenen Großunternehmen. Demokratische Allmenden (auch „Commons“) sind Gemeinwirtschaftsbetriebe im Bildungs-, Gesundheits-, Sozial-, Mobilitäts-, Energie- und Kommunikationsbereich: die „Daseinsvorsorge“.

11. Eine wichtige Demokratische Allmende ist die Demokratische Bank. Sie dient wie alle Unternehmen dem Gemeinwohl und wird wie alle Demokratischen Allmenden vom demokratischen Souverän kontrolliert und nicht von der Regierung. Ihre Kernleistungen sind garantierte Sparvermögen, kostenlose Girokonten, kostengünstige Kredite und ökosoziale Risikokredite. Der Staat finanziert sich primär über zinsfreie Zentralbankkredite. Die Zentralbank erhält das Geldschöpfungsmonopol und wickelt den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr ab, um Steuerflucht zu unterbinden. Die Finanzmärkte in der heutigen Form wird es nicht mehr geben.

12. Nach dem Vorschlag von John Maynard Keynes wird eine globale Währungskooperation errichtet mit einer globalen Verrechnungseinheit („Globo“, „Terra“) für den internationalen Wirtschaftsaustausch. Auf lokaler Ebene können Regiogelder die Nationalwährung ergänzen. Um sich vor unfairem Handel zu schützen, initiiert die EU eine Fair-Handelszone („Gemeinwohl-Zone“), in der gleiche Standards gelten oder die Zollhöhe sich an der Gemeinwohl-Bilanz des Hersteller-Unternehmens orientiert. Langfristziel ist eine globale Gemeinwohl-Zone als UN-Abkommen.

13. Der Natur wird ein Eigenwert zuerkannt, weshalb sie nicht zu Privateigentum werden kann. Wer ein Stück Land für den Zweck des Wohnens, der Produktion oder der Land- und Forstwirtschaft benötigt, kann eine begrenzte Fläche kostenlos nutzen. Die Überlassung ist an ökologische Auflagen und an die konkrete Nutzung geknüpft. Damit sind Landgrabbing, Großgrundbesitz und Immobilienspekulation zu Ende. Im Gegenzug entfällt die Grundvermögenssteuer.

14. Wirtschaftswachstum ist kein Ziel mehr, hingegen die Reduktion des ökologischen Fußabdrucks von Personen, Unternehmen und Staaten auf ein global nachhaltiges Niveau. Der Kategorische Imperativ wird um die ökologische Dimension erweitert. Unsere Freiheit, einen beliebigen Lebensstil zu wählen, endet dort, wo sie die Freiheit anderer Menschen beschneidet, denselben Lebensstil zu wählen oder auch nur ein menschenwürdiges Leben zu führen. Privatpersonen und Unternehmen werden angereizt, ihren ökologischen Fußabdruck zu messen und auf ein global gerechtes und nachhaltiges Niveau zu reduzieren.

15. Die Erwerbsarbeitszeit wird schrittweise auf das mehrheitlich gewünschte Maß von dreißig bis 33 Wochenstunden reduziert. Dadurch wird Zeit frei für drei andere zentrale Arbeitsbereiche: Beziehungs- und Betreuungsarbeit (Kinder, Kranke, SeniorInnen), Eigenarbeit (Persönlichkeitsentwicklung, Kunst, Garten, Muße) sowie politische und Gemeinwesenarbeit. Infolge dieser ausgewogeneren Zeiteinteilung würde der Lebensstil konsumärmer, suffizienter und ökologisch nachhaltiger.

16. Jedes zehnte Berufsjahr ist ein Freijahr und wird durch ein bedingungsloses Grundeinkommen finanziert. Menschen können im Freijahr tun, was sie wollen. Diese Maßnahme entlastet den Arbeitsmarkt um zehn Prozent – die aktuelle Arbeitslosigkeit in der EU.

17. Die repräsentative Demokratie wird ergänzt durch direkte und partizipative Demokratie. Der Souverän soll seine Vertretung korrigieren, selbst Gesetze beschließen, die Verfassung ändern und Grundversorgungsbereiche – Bahn, Post, Banken – kontrollieren können. In einer echten Demokratie sind die Interessen des Souveräns und seiner Vertretung ident – Voraussetzung dafür sind umfassende Mitgestaltungs- und Kontrollrechte des Souveräns.
18. Alle zwanzig Eckpunkte der Gemeinwohl-Ökonomie sollen in einem breiten Basisprozess durch intensive Diskussion ausreifen, bevor sie von einem direkt gewählten Wirtschaftskonvent in Gesetze gegossen werden. Über das Ergebnis stimmt der demokratische Souverän ab. Was angenommen wird, geht in die Verfassung ein und kann – jederzeit – nur wieder vom Souverän selbst geändert werden. Zur Vertiefung der Demokratie können weitere Konvente einberufen werden: Bildungs-, Medien-, Daseinsvorsorge-, Demokratiekonvent …

19. Um die Werte der Gemeinwohl-Ökonomie von Kind an vertraut zu machen und zu praktizieren, muss auch das Bildungswesen gemeinwohlorientiert aufgebaut werden. Das verlangt eine andere Form von Schule sowie andere Inhalte, z. B. Gefühlskunde, Wertekunde, Kommunikationskunde, Demokratiekunde, Naturerfahrenskunde und Körpersensibilisierung.

20. Da in der Gemeinwohl-Ökonomie unternehmerischer Erfolg eine ganz andere Bedeutung haben wird als heute, werden auch andere Führungsqualitäten gefragt sein: Nicht mehr die rücksichtslosesten, egoistischsten und „zahlenrationalsten“ Manager werden gesucht, sondern Menschen, die sozial verantwortlich und -kompetent handeln, mitfühlend und empathisch sind, Mitbestimmung als Chance und Gewinn sehen und nachhaltig langfristig denken. Sie werden die neuen Vorbilder sein.

Hintergrund:

Foto: Christian Felber

Christian Felber, geboren 1972, studierte Romanische Sprachen, Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie in Wien und Madrid. Er ist die prominenteste Stimme der Globalisierungskritik in Österreich, Mitbegründer von Attac, erfolgreicher Autor, freier Tänzer, Universitätslektor und internationaler Referent. Hier der Link zu seinem Buch Die Gemeinwohl-Ökonomie: Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe: Eine demokratische Alternative wächst
Mehr zur Gemeinwohlökonomie und alle Infos zum mitmachen hier.

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3 Kommentare zu “Ein neues Wirtschaftssystem: Gemeinwohlökonomie
  1. Wilma sagt:

    Derzeit schießen neue Wirtschaftssysteme fast wie Pilze aus dem Boden. Alle haben eine gemeinsame Schnittmenge. Dazu gehört der ökologische Aspekt und ebenso mehr Wohlstand für alle, jedoch in gerechter Relation zueinander. Einige dieser Systeme haben auch sehr bedenkliche Aspekte, andere können bei weitem nicht alle Probleme lösen. Mich hat bislang nur „System reloaded“ und „GRADIDO“ überzeugt. Beide Systeme wären wohl tatsächlich realisierbar und würden vieles zum Guten bewegen. „System reloaded“ las ich erst kürzlich und es ist mein persönlicher Favorit, weil darin sehr viel durchdacht ist, was bei anderen Ansätzen einfach völlig vernachlässigt wurde. Mir gefällt z. B. die Herangehensweise an das Thema erziehende Elternteile und Freiberufler erstklassig. Das ist jedoch nur 0,0001% von all den guten Ideen. Es liegt nur an der breiten Masse, aufzustehen und dies zu fordern, was darin verankert wurde. Die Bevölkerung hat die Macht und wenn sie dies erkannt hat, dann kann sie ALLES zum Guten verändern.

    Netter Gruß

    Wilma

  2. Franz Wimmer sagt:

    Hallo und guten Morgen !

    Vielen Dank für diesen Artikel über das Gemeinwohl als mögliches neues Wirtschaftssystem und als neuer Handlungsrahmen mit der sog. Gemeinwohl-Bilanz. Ich kenne das Buch und auch den Autor von einem sehr begeisternden Vortrag in München imvollbesetzten Saal und begeisternden Zuhörern.
    Wichtige Schritte waren:
    1. den Kapitalismus mit Verschwendung und Verschleiss kontrolliert zu beenden.
    2.Erste Schritte anzugehen.
    3.Erste Erfolge einfahren, wie z.B. geeignetes Einkommen für in Not geratene Muetter .

  3. Manfred Giger sagt:

    Gemeinwohlökonomie
    Wäre bestimmt ein erster Schritt in die richtige Richtung.
    ABER?
    Das Zahlungsmittel GELD muss komplett verschwinden.
    Warum?
    Der Wert und die Motivation liegt im Dienst der Allgemeinheit, den so gäbe es die Frage, Wie finanziere ich ein Projekt etc überhaupt, nicht mehr.
    Jeder wird da eingesetzt wo seine Stärken liegen, und kann sich dafür von den globalen Ressourcen ernähren und bedinen.

    Im Dienst der Allgemeinheit, heisst eine mögliche Lösung.

    Dazu braucht es aber eine Radikale Einstellungs Umstellung der Gesellschaft

    Ein Gedanke der sich lohnt…

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