Wabi Sabi: Vollkommenheit der Unvollkommenheit
Von Dirk Grosser. In Japan gibt es eine wundervolle Tradition, die die Vollkommenheit der Unvollkommenheit auf eine ganz besondere Weise ausdrückt und feiert. Zerbricht in dieser Kultur ein Gefäß, das sich schon seit einiger Zeit im Besitz der Familie befindet, so wird es nicht in einer Art repariert, dass es wie neu aussieht. Und keinesfalls wird es weggeworfen. Dort gibt es seit dem 16. Jahrhundert die sogenannte Kintsugi-Technik, bei der die Risse im Material mit Gold aufgefüllt und so die einzelnen Teile des jeweiligen Gefäßes wieder miteinander verbunden werden. Durch diese Technik entstehen atemberaubende Kunstwerke, denen man ansieht, dass sie einmal zerbrochen waren, die nun aber durch die goldgefüllten Risse eine ganz eigene und vor allem einzigartige Schönheit erhalten haben. Hier wird nicht so lange ein Makel kosmetisch behandelt, bis er unsichtbar ist, sondern im Gegenteil wird gerade der vermeintliche Makel hervorgehoben und im wahrsten Sinne des Wortes vergoldet.
Damit entspricht dieses Gefäß dann einem Schönheitsideal, das in Japan Wabi-Sabi genannt wird. Hinter Wabi-Sabi steht die Überzeugung, dass nur das, was eine sichtbare Geschichte vorweisen kann, auch wirklich schön ist. Authentizität ist hier wichtiger als Makellosigkeit. Dinge, denen die Patina des jahrelangen Gebrauchs anhaftet, werden als schöner erachtet als fabrikneue Produkte. Ein Kratzer, ein Riss, eine Delle, eine nicht ganz gerade Linie offenbaren eine Poesie des Alltags, wie sie sterile Massenprodukte nicht hervorzubringen vermögen.In der Kunst und der Architektur Japans hat dieses Konzept erstaunliche Spuren hinterlassen. Und auch die japanische Kalligrafie zeugt von Wabi-Sabi: Nur der lebendige Strich, der Schwung des Pinsels, der in aller Einfachheit das richtige Maß findet, wird als schön empfunden.
Vielleicht können wir dieses Ideal auf unser Leben übertragen, das oft zwischen vielen Ansprüchen von außen und auch innen zerrieben wird. Vielleicht können wir erkennen, dass gerade die scheinbare Unvollkommenheit uns Lebendigkeit und Schönheit schenkt, dass gerade die Geschichten, die sich als Falten in unserem Gesicht eingegraben haben, uns ausmachen und zeigen, wer wir wirklich sind. Gesichter, die von einem wirklichen Leben in all seiner Tiefe berichten können, sind weitaus schöner als die ausdruckslose Oberfläche einer Schaufensterpuppe oder die mit Photoshop bearbeiteten Hochglanzbilder ätherischer Models. In unserer Welt gibt es so viel Künstlichkeit, so viel geschönte Selbstdarstellung, so viel botox-induziertes Dauergrinsen, dass uns das Gefühl für das Echte immer mehr abhandenkommt.
Aber ganz ehrlich: Möchten wir von Masken umgeben sein? Möchten wir, dass die Menschen, die wir lieben, sich vor uns verbergen, weil sie glauben, das würde von ihnen erwartet? Ist es nicht vielmehr das Echte, der ganze Mensch, den wir wahrhaft sehen wollen? Ist es nicht das wirklich Menschliche, das uns berührt?
Mich zumindest treffen diese Momente ins Mark, in denen mir Menschen unverstellt einen Einblick in ihr wahres Ich gewähren. Ich habe diese Augenblicke ehrlicher Menschlichkeit erlebt in Nächten, in denen ich in 24-Stunden-Tankstellen gejobbt habe und viel mit Alkoholikern und Obdachlosen zu tun hatte, in Notaufnahmen von Krankenhäusern, wo die Sorge der Menschen greifbar wurde und sie sich ihrer Tränen nicht schämten, in schmierigen Blueskneipen, wo die über den Gürtel hängenden Wampen genauso ehrlich waren wie das herzhafte Lachen. Auch auf Bahnhöfen und Flughäfen, wo Abschied und Wiedersehen so nah beieinanderliegen, auf Seminaren, nachdem die größten Zweifler und Zyniker von ihrer ersten schamanischen Reise förmlich »aufgebrochen« wurden, und in vielen Gesprächen mit Menschen, die ihren Glauben verloren hatten oder keinen Zugang mehr zu ihrer eigenen Tradition gewinnen konnten. In all diesen Momenten, bei all diesen Begegnungen wurden die Masken beiseitegelegt, und der wirkliche Mensch kam in seiner ganzen natürlichen Schönheit, seiner Güte, seinen Zweifeln und Ängsten, seiner Großartigkeit und seiner Liebe zum Vorschein.
So können ein wirkliches Gespräch und ein wirkliches Einander-Sehen stattfinden, die wie die Kintsugi-Technik die Narben, die wir alle tragen, sichtbar machen und vergolden. Unsere Unvollkommenheit ist unser schönster Schmuck, denn sie macht uns erst zu echten Menschen.
Hintergrund: Der Text ist dem Buch “Das Tao des Drachen” entnommen. Dort begegnen wir verschiedenen Drachen in einer erzählerischen Episode. Mit einer entsprechenden Übung können wir uns die jeweilige Drachenkraft aneignen, sie im Leben manifestieren, mit dem Tao fließen und so Freiheit, Weite und Gelassenheit atmen. Dazu gibt es ein CD Der Weg des Drachen -Meditationen zur Begegnung mit der Ur-Kraft und eine Musik-CD: Der Tanz des Drachen – Dynamische Trommeln für die innere Kraft
Zur Person: Dirk Grosser schreibt für verschiedene spirituelle Magazine und ist Autor und Co-Autor mehrerer Bücher. Er hat in verschiedenen Bands gespielt, an den Soundtracks zu zwei Dokumentarfilmen mitgewirkt und sowohl als Solokünstler als auch mit der Trommelgruppe VIATORES mehrere CDs veröffentlicht.
Homepage: http://www.wildeweisheit.de
Jo Dirk: die vollkommene Unvollkommenheit oder das perfekte Imperfekte oder die Leere. Alles und Nichts. Und was dazwischen ist.