Weibliche Stimme der Freiheit

Jetsunma Tenzin Palmo

Jetsunma Tenzin Palmo

Jetsunma Tenzin Palmo ist eine verehrte Meisterin des tibetischen Buddhismus. Nach vielen Jahren zurückgezogener Praxis widmet sie sich heute vor allem der Unterstützung von Frauen auf dem buddhistischen Weg. Wir sprachen mit Tenzin Palmo über den Körper, die Rolle des Selbst auf dem spirituellen Weg und die weibliche Stimme der Freiheit.evolve: Was ist Freiheit?

Jetsunma Tenzin Palmo: Aus buddhistischer Perspektive würde ich sagen, dass Freiheit die Befreiung von der Täuschung eines Egos ist, für das wir uns selbst halten: etwas sehr Solides, Bleibendes, Reales und Unveränderliches. Das ist die grundlegende Unwissenheit, eine grundlegende Täuschung. Es ist der Glaube, dass im Zentrum des Netzes, aus dem unsere Gier, unsere Ablehnung, unser Stolz, unsere Unwissenheit, unsere Ängste und Hoffnungen entstehen, ein solides, dauerhaftes „Ich“ ist. Wenn wir die Trennung dieses Egos durchschaut haben und eine weitaus tiefere Bewusstseinsebene, ein ursprüngliches Gewahrsein, verwirklichen, dann fallen die Gier und das Verlangen, die Schutzmechanismen des Egos, von uns ab! Dann sind wir frei.

e: Warum verteidigt sich das Ego gegen diese Freiheit?

JTP: Das Ego weiß, dass unsere Befreiung, unsere Verwirklichung, sein Tod wäre. Obwohl das Ego eigentlich nie wirklich existiert hat. Wir spielen endlose Rollen, aber Hamlet will nicht sterben, er will einfach nur weiterleben.

e: Wie können wir Befreiung verwirklichen?

JTP: Das ist das Anliegen eines jeden spirituellen Weges. Es gibt viele spirituelle Wege, es gibt viele Wege zum Berggipfel und für verschiedene Menschen sind unterschiedliche Ansätze hilfreich. Es gibt die Wege der Meditation, des Dienstes, der Hingabe und so weiter. Alles, was das Ego infrage stellt und seine Machenschaften durchschaut, kann uns weiterhelfen.

Jenseits des Selbst

e: Im Westen ist der psychotherapeutische Ansatz sehr populär geworden, hier wird das Töten des Egos als etwas sehr Zerstörerisches gesehen.

JTP: Dabei muss man beachten, dass man zuerst ein sehr gesundes, ausgeglichenes Ego entwickeln muss, um es schließlich aufzulösen.

e: Können Sie mehr darüber sagen? Das scheint ein Paradox zu sein.

JTP: Aber es ist keines! Nehmen wir an, Ihr Arm ist verletzt. Dann können Sie den Arm nicht so gut benutzen und müssen ihn schützen. Sie denken ständig an den Arm und wenn jemand ihn berührt, ist es sehr schmerzhaft. Deshalb schützen Sie ihren Arm und kümmern sich um ihn. Wenn der Arm gesund ist, dann ist er nicht nur sehr nützlich, wir müssen auch nicht ständig an ihn denken. Wenn jemand uns am Arm berührt, macht es uns nichts aus. Wir müssen nicht unsere ganze Zeit damit verbringen, über den Arm nachzudenken, denn er ist gesund. Wenn man gleichermaßen ein verletztes Ego, ein verletztes Selbstgefühl hat, wie es bei vielen Menschen der Fall ist, dann denkt man ständig an sich selbst! Deshalb ist Psychotherapie so populär, deshalb reden wir ständig über das Ich, über mich, über meines …

Aus solch einer Geisteshaltung heraus kann man das Selbst nicht dekonstruieren, weil das Selbst unter Schmerzen leidet. Wir müssen das Selbst also zunächst heilen, denn wenn sich das Selbstgefühl in einer Balance befindet, dann denken wir nicht mehr so viel über uns selbst nach.
Hierbei kann Psychotherapie meiner Ansicht nach sehr hilfreich sein, denn wir können ein glückliches Selbst entwickeln. Und dann können wir uns mit diesem Selbst auf den Weg zur Überwindung des Egos begeben. Denn um auf dem Weg voranzukommen, brauchen wir ein selbstbewusstes und starkes Selbst. Mit einem schwachen oder schmerzenden Selbst finden wir nicht den nötigen Mut, um den spirituellen Weg zu gehen.

e: Wie verändert diese Befreiung unsere Beziehung zum Körper, zu unserem Hiersein als verkörperter Mensch?

JTP: Der Buddha lehrte vier Ebenen der Bewusstheit. Die erste Ebene umfasst die tiefe Bewusstheit für den Körper, für unsere Bewegungen, den Atem, das grundlegende Gefühl des Verkörpertseins. Das ist sehr wichtig. Im Zen zum Beispiel sind körperliche Aktivitäten wie Fegen, Waschen oder Kochen Teil des spirituellen Weges. Spiritualität bedeutet nicht, dass man sich aus dem Körper löst. Eine echte Erfahrung geschieht nicht im Kopf, sondern in der Mitte unseres Wesens, das manchmal als Herz bezeichnet wird. Damit ist nicht das physische Herz gemeint; oft wird dieses wesenhafte Herz in der Mitte des Brustraums lokalisiert.
Je mehr wir aus dem konzeptuellen Verstand herauskommen, desto mehr werden wir eins mit unserem ganzen Wesen. Das Problem ist, dass insbesondere heutzutage die Menschen vor allem im Westen vollkommen im Kopf gefangen sind. Der Verstand ist sehr hilfreich; aber der intellektuelle Geist ist nur ein sehr kleiner Teil des ganzen Geistes, des wahren Geistes. Das Gehirn ist die Maschine, der Computer, aber das ist nicht der ganze Geist.

Der Raum des Gewahrseins

e: Was ist der ganze Geist?

JTP: Der Geist ist sehr tiefes, ursprüngliches Gewahrsein. Man kann sagen, er ist wie der Raum: Der Geist durchdringt alles, man kann ihn nicht greifen, man kann ihn nicht festhalten, man kann nicht darauf zeigen – aber alles existiert, weil Raum ist. Gleichermaßen existieren all unsere Gedanken und Emotionen, weil wir bewusst sind. Aber normalerweise sind wir uns nicht dessen bewusst, dass wir bewusst sind. Die Essenz des Bewusstseins, dieses wahre ursprüngliche Gewahrsein oder Bewusstsein befindet sich nicht im Gehirn.

e: Faszinierend dabei ist, dass es einige einflussreiche westliche Buddhisten gibt, die sich mit Neurologie beschäftigen und annehmen, dass das Gehirn das Bewusstsein erzeugt.

JTP: Aber es ist genau andersherum. Vor Kurzem traf ich den Meditationslehrer Alan Wallace. Er hat sehr viel mit Neurowissenschaftlern zusammengearbeitet und ist davon ziemlich desillusioniert, weil sie nur darauf schauen, was sie mit ihren Maschinen messen können. Sie können nicht sehen, was hinter dem liegt, was eine Maschine erfassen kann. Sie sind in einer sehr mechanistischen Denkweise gefangen und können nicht darüber hinaus schauen: in das reine Gewahrsein. Sie wissen nicht einmal, dass es existiert. Weil man es nicht messen kann. Es ist wie der Raum, man kann es nicht sehen. Wir sehen die Objekte – die letzten Endes auch Raum sind, der eine Festigkeit angenommen hat, die unsere Sinne wahrnehmen können –, aber wir können den Raum selbst nicht sehen. Aber der Raum ist überall. Wo wären wir ohne Raum?

e: Und Befreiung ist das Gewahrsein …

JTP: … in dem wir diese Realität immer erkennen. Wir können kurze Ahnungen davon erfahren, die uns den Weg zeigen können, aber um immer in diesem Zustand verweilen zu können, müssen wir üben.

e: Im Westen wurde die Sorge laut, dass sich Menschen, die viel meditieren, zu einer Trennung von ihrer gefühlten, verkörperten Existenz neigen könnten. Mein Eindruck ist, dass viele Menschen, die meditieren, eine tiefe unbewusste Kluft zwischen ihrem konzeptuellen Geist und ihrem Körper erleben.

JTP: Ich denke, das hängt davon ab, was für eine Meditation man übt. Wir sagen „Meditation“, aber dazu gehört eine Vielzahl von verschiedenen Methoden und Ausrichtungen. Wenn man eine Methode benutzt, in der man die Gedanken betrachtet und jeden Gedanken noch klarer macht, damit man genau sieht, wie sich die Gedankenmuster bewegen – kommen und gehen, kommen und gehen, kommen und gehen – und diese Übung drei Jahre lang praktiziert, dann könnte man am Ende die Verbindung zum Körper verloren haben.
Eine Zeit lang die Gedanken in dieser Weise zu betrachten, ist hilfreich, wir erfahren, dass wir nicht die Gedanken sind. Aber diese Praxis untersucht nicht, wer der Betrachter ist. Das ist eine Frage, die dabei nicht gestellt wird. Ich finde das merkwürdig. Im tibetischen Buddhismus kommt man sofort zu dieser Frage. Man betrachtet den konzeptuellen Geist und fragt sich: Wer oder was betrachtet den Geist? Und ist der Betrachter gleich oder anders als das Betrachtete? Wo ist der Geist? Man beschäftigt sich viel mehr mit dem Gewahrsein, das weiß. Der Wissende, anstatt nur das Gewusste.

e: Diese Befreiung, von der Sie sprechen, ist ganz und ungeteilt. Darin gibt es diese Kluft zwischen Körper und Geist nicht, die im Westen so verbreitet ist.

JTP: In Asien wird das Wort für Geist auch oft für das Herz benutzt; sie denken dort nicht so viel nur im Gehirn. Wenn sie über den Geist sprechen, dann meinen sie eher eine wesenhafte Präsenz in der Mitte des Brustraums. Sie sind stärker mit dieser tieferen Ebene des Gewahrseins verbunden als die meisten Menschen im Westen. Im Zusammenhang mit Verkörperung gibt es dort auch viel Wissen über subtile Energien, die Nadis, Bindus und Chakras usw.

Die weibliche Stimme

e: Befreit uns die Verwirklichung der Freiheit in diesem ursprünglichen Bewusstsein auch von unseren Identitäten in unserer Verkörperung als Mann oder Frau oder Angehöriger einer bestimmte ethnischen Gruppe?

JTP: Oh, ich würde Ihnen gerne sagen, dass dem so ist, aber ich bin mit nicht sicher, ob es wirklich so ist, denn selbst unter den tief erleuchteten buddhistischen Meistern wurde eine Ungleichheit der Geschlechter angenommen.

e: Was ist Ihrer Ansicht der Grund dafür?

JTP: Ich weiß es nicht, diese Frage stellen wir mittlerweile oft als Frauen in der buddhistischen Tradition. Es sollte doch offensichtlich sein, dass das Geschlecht nur eine Rolle ist, die wir in diesem Leben spielen. Wer weiß, welche Rolle uns im nächsten Leben gegeben wird? Das sollte also klar sein, aber angesichts der sozialen Bedingungen bestand diese Ungleichheit bis heute. Mittlerweile sagen die Lamas, einschließlich des Dalai Lama: „Entschuldigt, liebe Frauen, wir haben euch jahrhundertelang übersehen. Aber heute hat sich die Lage verändert, ihr könnt studieren, ihr könnt praktizieren, ihr habt schöne Nonnenklöster, es gibt nichts, dass ihr nicht auch in einem weiblichen Körper erreichen könntet.“ Der Grund dafür ist, dass vor allem westliche Frauen im Buddhismus dieses Thema immer wieder angesprochen haben.
Bis noch vor Kurzem wurde der weibliche Körper als ein großes Unglück angesehen, dessen Ursache in schlechtem Karma liegt. Mädchen wurden nicht ausgebildet, sie waren Dienerinen und ihre Rolle bestand darin, gute Mädchen zu sein, hart zu arbeiten und beim nächsten Mal als Mann wiederzukommen.
Gerade jetzt, wo ich mit Ihnen spreche, überblicke ich unseren Hof, wo die jungen Nonnen heftig miteinander debattieren. Vor zwanzig Jahren debattierten Nonnen nicht – so einfach war das! Man dachte, dass Frauen, wenn sie philosophisch nachdachten, ihr kleines Gehirn überfordern würden. Debattieren war eine männliche aggressive Tätigkeit, mit der sich eine Frau – als sanftes aber dummes Wesen – nicht abgeben sollte. Selbst die tief erleuchteten Meister waren dieser Ansicht.

e: Ich glaube, man kann gar nicht genug anerkennen, wie tief diese Veränderung tatsächlich ist.

JTP: Ja, denn wenn man dir nichts zutraut, dann traust du dir selbst nichts zu.

e. Das bezieht sich auch auf etwas, das Sie vorher gesagt haben: dass man ein gesundes Ego braucht, um wirklich auf dem Weg sein zu können. Das gesunde Ego bezieht sich darauf, wie die Menschen uns sehen und was die Kultur uns ermöglicht.

JTP: Genau. Wenn dir von klein auf gesagt wird, dass du minderwertig bist, dass es wenig Hoffnung für dich gibt und dass du irgendetwas falsch gemacht hast, weil du in diesem Leben als Frau geboren wurdest, wie kannst du dann an dich selbst glauben und wie kannst du dann andere Frauen respektieren? Natürlich können wir es nicht! Heute sehen wir, dass es kein Hindernis ist, eine Frau zu sein, wir studieren, debattieren, praktizieren – wir können alles: Das ist eine Revolution.

e: Es deutet auch auf eine tiefere Wertschätzung des geschlechtslosen universellen Absoluten hin.

JTP: Ja! Das sollte doch offensichtlich sein, nicht wahr? Selbst heute fragen wir: Wie konnten die großen mitfühlenden Bodhisattvas die Frauen übersehen? Es gibt keine Antwort darauf.
Die Dinge verändern sich, das ist sehr inspirierend. Es ist wunderbar zu sehen, wie Mädchen schüchtern und unsicher hier herkommen und wie schnell sie zu selbstbewussten jungen Frauen werden, die wirklich das tun, was sie sich vorher nie erträumt hätten. Die Transformation findet vor unseren Augen statt. Das ist ein großes Potenzial für die Zukunft.
Ich denke, dass die weibliche Stimme, die bisher verstummt war, ein großer Beitrag sein wird, für alles, was im kommenden Jahrhundert geschieht. Und diese Stimme wird dringend gebraucht, nicht war?

e: Was will diese Stimme sagen, wofür könnte sie stehen?

JTP: Ich weiß es nicht – dieser Stimme wurde ja nie erlaubt, zu sprechen! Ich hoffe nur, dass sie nicht das wiederholt, was die Männer gesagt haben. Frauen müssen ihre eigene Stimme finden. Es sollte eine Ausgeglichenheit entstehen. Nichts gegen die männliche Stimme, aber wenn es in einem Chor nur Männerstimmen gibt, ist etwas nicht in Balance. Wir brauchen einige Alt- und Sopranstimmen. Der Planet braucht diese Stimmen so dringend. Hoffen wir also, dass diese Stimmen schnell lauter werden und deutlich genug sind, damit sie auch gehört werden.

Das Gespräch führte Elizabeth Debold.

PQ: Das Ego weiß, dass unsere Befreiung, unsere Verwirklichung, sein Tod wäre.

Eine echte Erfahrung geschieht nicht im Kopf, sondern in der Mitte unseres Wesens.

Selbst unter den tief erleuchteten buddhistischen Meistern wurde eine Ungleichheit der Geschlechter angenommen.

Zur Person:  Jetsunma Tenzin Palmo wuchs in London auf und kam im Alter von 20 Jahren 1964 nach Indien zu gehen. Dort traf sie ihren Meister, den 8. Khamtrul Rinpoche Dongyu Nyima. Als eine der ersten Abendländerinnen erhielt sie die Ordination zur tibetisch-buddhistischen Nonne. Sie lebte sechs Jahre in einer klösterlichen Gemeinschaft und praktizierte danach zwölf Jahre in einer Höhle. Nach vielen Jahren des Lehrens in buddhistischen Zentren gründete Tenzin Palmo im Jahre 2000 das Nonnenkloster Dongyu Gatsal Ling in Himachal Pradesh. www.tenzinpalmo.com

Der Interview ist zuerst im evolve Magazin erschienen. Wir danken für das Zweitveröfftlichungsrecht.

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