Apfelessig nach Großmutters Rezept

Apfelkiste1 KopieVon Isabella Hafner. Dass Mäde Roth, 83, jemals Obstessig gekauft hätte, daran kann sie sich nicht erinnern. Sie macht ihn selbst, meist aus Apfelsaft – das letzte Mal vor zwei Monaten. Im Keller ihres Hauses unweit von Ravensburg stehen heute noch zwei Fässchen, recht gut gefüllt. Wie andere Bier vom Fass abzapfen, füllt sie Essig in ihr Fläschchen für die Küche ab. Ihr Mann habe, als er noch lebte, gerne experimentiert und noch Zutaten ins Fässchen gegeben – Estragon etwa. »Meine Nachbarin wirft immer eine Handvoll Himbeeren in ihren Essig.« Auch Orangenstücke oder die Kombination aus Ingwer und Chili hätten sich schon bewährt.

Essig kann so einiges bewirken. Morgens ein Esslöffel davon mit Wasser verdünnt auf nüchternen Magen getrunken, und der Organismus kommt in Gang: Essig regt den Stoffwechsel an und transportiert Schadstoffe aus dem Körper, er wirkt gegen Verstopfung und hat allerlei weitere therapeutische Eigenschaften.

Wer Essig herstellen will, braucht für seine Werdung eine »Mutter«. Die ähnelt mal einer handgroßen, weißen Qualle, mal einer schlotterigen Scheibe; sie besteht aus Bakterien und regt die Säurebildung an. Genauer gesagt: Ihre Aufgabe ist es, durch Fermentation Alkohol in Essig zu verwandeln. Der Stuttgarter Fernsehkoch Vincent Klink ist der Meinung, dass es auch ohne Mutter geht, in der Luft seien genug Essigbakterien. Mäde Roth rät jedoch ausdrücklich zu einer Essigmutter. Ihre ist schon mehr als fünfzig Jahre alt.

Während jeder Essigproduktion wächst das »rotzige Zeug«, wie sie sagt. Vor jedem Ansetzen wäscht sie die Qualle, verwendet die eine Hälfte weiter und befördert die andere auf den Kompost.
Wer ohne Mutter ist, kann sich selbst eine herstellen: Dazu lässt man ungefilterten, nicht erhitzten Bio-Essig in einem Gefäß, dessen Öffnung mit Watte oder Küchenkrepp verschlossen ist, eine Weile stehen. Nach zwei bis drei Wochen bilden sich Schlieren, dann ein Körper – die Mutter.

Mäde Roth, die früher Telefonistin ­einer diakonischen Behinderteneinrichtung war, ist eine Selbermacherin. Noch heute stellt die 83-Jährige ihre Nudeln her, weckt Obst und Gemüse aus ihrem großen Garten ein, macht Kompott und Marmelade, Saft und Sirup. Als ihr Mann noch lebte, bereitete er Kosmetik, Salben und Tees selbst zu. Das Paar hatte Hasen und Enten und damit sein eigenes Fleisch und auch Schmalz.

Essig-Oma pfeift auf Theorie
Wein kann ebenso wie Apfelsaft oder frischer Apfelmost zu Essig werden, allerdings sollte er ungeschwefelt und naturbelassen sein, sonst verweigern die Bakterien ihre Mitarbeit. Wenn Vincent Klink sagt, er kippe alle Rotweinreste zusammen, um seinen Balsamico zu kreieren, stutzt Mäde Roth. Das könne nicht funktio­nieren. Wein, der in Flaschen abgefüllt wurde, sei geschwefelt und meist hocherhitzt worden, damit er nicht weitergärt, ebenso Most – »selbst der aus dem Bioladen.«

Einen Liter Wein setzt man mit der Essigmutter in großen Gläsern oder, wie Mäde Roth es macht, in Fässchen an. Man kann auch 100 Milliliter Essig dazugeben und warten, bis die Mutter entsteht. Liegt der Alkoholgehalt bei mehr als zehn Prozent, sollten 700 Milliliter Wein mit 300 Millilitern Wasser verdünnt werden. Damit die Bakterien kontinuierlich Sauerstoff abbekommen, müssen die Gläser mit über der Öffnung fixiertem Küchenkrepp abgedeckt werden. Watte ist noch besser, weil sie Kahmhefen aus der Luft abhält, die Schimmel verursachen können. Mäde Roth lehnt den Deckel ihres Fässchens an. Nun soll das Gebräu laut Lehrbuch an einen mindestens 25 Grad warmen Platz. Mäde Roth lässt alles im Keller. »So einen Hickhack mache ich nicht.« Seit einem halben Jahrhundert funktioniert der Prozess trotzdem bei ihr. »Vielleicht dauert es etwas länger.«

Nach ein bis zwei Wochen bildet sich eine dünne Haut über dem Gebräu. Das ist der Beweis dafür, dass die Essigbakterien aktiv sind, sich vermehren. Während der Gärung riecht die Flüssigkeit etwas nach Klebstoff, nach Ethylacetat. Etwa sechs Wochen bis zwei Monate später ist ein junger Rohessig entstanden – der Alkohol wurde verwandelt. Die Mutter wird nun halbiert und wiederverwendet, indem sie mit neuem Wein, Most oder Saft begossen wird. Nun muss der Essig ohne Mutter dunkel und kühl noch zwei bis drei Monate reifen – je nach Geschmack. Probieren lohnt sich!

Vincent Klink trinkt seinen Rotwein-Balsamico angeblich gerne als Aperitif. Bei Mäde Roth kommt der edle Tropfen nicht nur in Salate, sondern auch in ihre geliebten sauren Bohnen oder schwäbischen ­Linsen.

oya39Der Artikel erschien als copyleft zuerst in der Oya 39 zum Thema »Vorratshaltung«. Alte Handfertigkeiten wie Einkochen, Trocknen oder Milchsäuregärung möchten wir hiermit wiederbeleben und auf den neusten Stand bringen. Wir gehen damit kleine Schritte, um uns unabhängiger von der großen Agrarindustrie und Wegwerf-Gesellschaft zu machen. Hier mehr lesen.

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