Wenn Nähe nur noch wehtut – Kontaktabbruch zu den Eltern

Es ist ein Entschluss, den niemand leichtfertig trifft: den Kontakt zu den eigenen Eltern abzubrechen. Für Außenstehende oft schwer nachvollziehbar – für Betroffene ein langer innerer Weg, geprägt von Schmerz, Schuldgefühlen und schließlich einer tiefen Sehnsucht nach Frieden. In diesem Artikel geht es nicht darum, den Kontaktabbruch als schnellen Ausweg darzustellen. Es geht um die leisen Prozesse davor, die inneren Kämpfe – und darum, wie du deinen eigenen Weg achtsam finden kannst, wenn die Beziehung zu den Eltern mehr schadet als nährt.
Warum der Kontakt zu den Eltern manchmal nicht mehr möglich ist
Unsere Eltern sind die ersten Menschen, zu denen wir eine Beziehung haben. Wir sind mit ihnen verbunden – biologisch, emotional, tief geprägt. Umso schwerer wiegt es, wenn diese Beziehung chronisch belastet, ist: durch Missachtung, Abwertung, Grenzverletzungen oder emotionale Manipulation. Viele erwachsene Kinder halten lange durch, rechtfertigen, hoffen, verzeihen. Doch irgendwann kann ein Punkt kommen, an dem der Preis für den Kontakt zu hoch wird: die eigene psychische Gesundheit, das Selbstwertgefühl, der innere Frieden. Der Kontaktabbruch ist oft der letzte Schritt, wenn alle Versuche der Klärung, Abgrenzung oder Veränderung gescheitert sind.
Was ein Kontaktabbruch wirklich bedeutet
Ein Kontaktabbruch ist keine impulsive Entscheidung, sondern ein Prozess – oft über Monate oder Jahre. Er bedeutet nicht zwangsläufig Hass oder Ablehnung, sondern kann Ausdruck eines letzten Aktes der Selbstfürsorge sein.
Viele sagen:
- „Ich habe mich nicht gegen meine Eltern entschieden – sondern für mich.“
- „Ich wollte endlich atmen können, ohne Angst vor dem nächsten Vorwurf.“
- „Es war der einzige Weg, um nicht weiter innerlich zu zerbrechen.“
Typische innere Konflikte beim Kontaktabbruch
Der Schritt ist selten frei von innerer Ambivalenz. Typische Gedanken sind:
- „Darf ich das überhaupt tun?“
- „Aber sie sind doch meine Eltern…“
- „Was ist, wenn ihnen etwas passiert?“
- „Bin ich undankbar, kalt, egoistisch?“
Diese Gedanken sind normal – sie zeigen, wie tief verankert Loyalität und Schuld in familiären Beziehungen sind. Gleichzeitig darfst du wissen: Du darfst dich schützen.
Achtsame Fragen auf deinem Weg
Wenn du über einen Kontaktabbruch nachdenkst, können dir folgende Fragen Orientierung geben:
- Was genau verletzt mich immer wieder im Kontakt?
- Habe ich meine Grenzen klar und deutlich kommuniziert?
- Gibt es wiederholte Muster, die sich trotz aller Gespräche nicht verändern?
- Wie fühle ich mich nach Kontaktpausen – gestärkt oder schuldig?
- Was brauche ich, um innerlich heil(er) zu werden?
Was nach dem Abbruch hilft – 5 Wege, inneren Frieden zu finden
- Erlaube dir deine Entscheidung
Du hast gute Gründe. Zweifel gehören dazu, aber du darfst deinem Empfinden trauen. - Sprich mit Menschen, die dich verstehen
Ein sicherer Raum – sei es durch Coaching, Therapie oder vertraute Menschen – hilft, Gedanken zu sortieren und Schuldgefühle zu entlasten. - Finde dein eigenes Tempo
Ein Kontaktabbruch kann vorübergehend oder dauerhaft sein. Du musst dich nicht festlegen – sondern deinem inneren Kompass folgen. - Pflege deine inneren Beziehungen
Oft bleibt die Stimme der Eltern in uns laut. Innere-Kind-Arbeit, systemische Begleitung oder Rituale können helfen, den Schmerz zu würdigen und loszulassen. - Schreibe einen Brief (auch wenn du ihn nie abschickst)
Schreibe, was du erlebt hast. Was du gebraucht hättest. Was du loslassen möchtest. Schreiben klärt, löst und heilt – ohne Konfrontation.
Und manchmal öffnet sich ein neuer Weg
Nicht alle Türen müssen für immer geschlossen bleiben. Manchmal verändert sich etwas – in dir, in den Eltern, im System. Und manchmal wird es möglich, mit Hilfe wieder in einen achtsamen, respektvollen Kontakt zu kommen.
Familiendialoge, systemische Gespräche oder Mediation können hier eine Brücke sein – vor allem, wenn beide Seiten gehört werden wollen, ohne sich erneut zu verletzen. Es geht nicht darum, Schuldige zu finden, sondern Verständnis zu ermöglichen, wo Verletzungen waren.
Ein solcher Weg braucht Mut, Reife – und oft eine neutrale, erfahrene Begleitung. Aber er ist möglich. Dein Weg zählt – in deinem Tempo, mit deiner Wahrheit. Ob du gerade mit dem Gedanken spielst, Abstand zu nehmen – oder nach Jahren wieder einen Schritt auf deine Eltern zugehen möchtest: Es gibt keine richtige oder falsche Entscheidung. Es gibt nur deinen Weg. Und du darfst ihn achtsam gehen. In deinem Tempo. Mit deiner inneren Würde.
….aus tiefstem Herzen DANKE 💜 für Deine Expertise hier, liebe Petra…..Du schreibst mir aus der Seele….und ja, auch meine Erfahrungen mit jenen von Dir hier angeführten Begleitungsangeboten ist :“Nicht alle Türen müssen für immer verschlossen bleiben….“ und so kann ich aktuell die Zeit, die mir mit hochhalten Angehörigen noch bleibt, auch unserer Versöhnung widmen…und uns „frei geben“….wir können jetzt „am Ende“ miteinander auch das uns Verbindende würdigen…..
Liebe Grüße,
Dagmar
Herzensdank an euch alle!
Ich bin tief berührt von den vielen ehrlichen, reflektierten und mutigen Rückmeldungen zu meinem Artikel. Danke, dass ihr eure Geschichten geteilt habt – mit offenem Herzen, mit Klarheit, mit Verletzlichkeit und mit der Bereitschaft, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen.
Es zeigt sich, wie vielfältig die Wege sind, die wir in unseren Eltern-Kind-Beziehungen gehen – manche voller Nähe, andere mit Distanz, manche mit versöhnlicher Verbindung, andere im Schutz durch Trennung. Keine Geschichte gleicht der anderen – und doch verbindet uns alle das tiefe menschliche Bedürfnis nach Frieden, Würde und innerer Freiheit.
Ich sehe in all euren Stimmen einen Schatz an gelebtem Leben, an Erkenntnis, an Transformationskraft. Danke, dass ihr diesen Raum mit eurer Präsenz so wertvoll macht. Und danke, dass wir alle auf unsere Weise Brücken bauen – zwischen Generationen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen uns und dem Leben. In Verbundenheit, Petra
Liebe Petra,
wir dürfen nicht vergessen: Auch Eltern entwickeln sich (weiter), werden wacher, bewusster, verändern ihr eigenes Leben, verlassen alte Strukturen und Generationen übergreifende einengende Konzepte. Kinder können in ihrem eigenen Prozess des erwachsen und reifer werdens damit nicht zurechtkommen, verweigern sich, wollen an Gewohntem, Altbewährtem festhalten, gestehen uns als Eltern das eigene Weitergehen nicht zu.
Bei aller Liebe, allem Respekt, aller Offenheit, aller Gesprächsbereitschaft und allem Verständnis für die Kinder: Zu einem wertschätzenden Dialog gehört immer auch IHRE Bereitschaft und der Blick über IHREN persönlichen Tellerrand.
Liebe Grüße
Cornelia
Liebe Cornelia,
es berührt mich sehr, wie ehrlich und reflektiert du deine Gedanken teilst. Dein Blick auf die Entwicklung von Eltern als lebendige, lernende Menschen ist kraftvoll und wichtig.
Gleichzeitig zeigst du mit viel Klarheit, wie schmerzhaft es sein kann, wenn Kinder diesen Wandel (noch) nicht mit vollziehen können oder wollen. Dass du diesen inneren Zwiespalt in Worte fasst, zeigt deine Tiefe und dein echtes Interesse an Beziehung – nicht als Einbahnstraße, sondern als Dialog, der auf Gegenseitigkeit beruht.
Es ist so wertvoll, dass du beides im Blick behältst: deinen eigenen Weg – und gleichzeitig die Verbindung zu deinen Kindern. Und genau darin liegt eine große Stärke: im liebevollen Beharren auf Eigenverantwortung und im gleichzeitig offenen Herzen für das, was noch wachsen darf – auf beiden Seiten.
Von Herzen danke für deine Offenheit und deinen Weg.
Alles Liebe
Petra
Liebe Petra,
danke für diesen reflektierten Artikel. Ich habe vor 13 Jahren den Kontakt zu meiner Mutter beendet – nach langen Jahren erfolgloser Bemühungen für ein wertschätzendes Miteinander. Seitdem kommen kommen keine neue Wunden mehr hinzu, meine alten Wunden dürfen heilen.
Liebe Cornelia,
ja, es gehört Bereitschaft auf beiden dazu. Und gerade deshalb finde ich diesen Artikel so wertvoll: er stärkt die Seite der Kinder.
Wenn ich davon erzähle, dass ich den Kontakt zu meiner Mutter beendet habe, werde ich selten gefragt warum, öfter kommen Sätze wie „Aber sie ist doch deine Mutter.“
In unserer Gesellschaft herrscht noch immer die Meinung „Jede Mutter liebt ihr Kind. Wendet sich das Kind ab, ist es undankbar.“ Wie sich die Mutter in dem Prozess verhalten hat, wird selten hinterfragt.
Bei allem Verständnis für den Schmerz von verlassenen Müttern, finde ich diesen Artkel vor diesem Hintergrund umso wichtiger.
Danke für diesen Artikel.
Ein wichtiges Thema.
Bei mir war es umgekehrt – mein Vater hat den Kontakt vor 5 Jahren abgebrochen. Schwierige Jahrzehnte gingen voraus. Nun gerade bricht meine ältere Schwester mit mir. Es gibt keine Bereitschaft zu sprechen, zuzuhören. Das Kindheitsmuster – verhalte Dich, wie verlangt wird, oder Du wirst isoliert.
Inzwischen, nach jahrelanger Trauer und Aufarbeitung bin ich froh über den Kontaktabbruch, da ich mich nun freier entwickeln kann. Aber ein Teil der Trauer bleibt (oder wandelt sich erst) – es fühlt sich als Verrat an, als verstoßen zu sein. Sehr viel Kraft war nötig, das zu verkraften und nicht aufzugeben.
Liebe Petra,
Herzensdank für deinen wichtigen Artikel.
Bei mir kam eher von Außen der berühmte Satz: „es ist doch deine Mutter“. Ich selbst habe schon früh gewusst, daß unsere Verbindung, die meine Mutter und ich hatten, auf Dauer nicht gut war und kein Versuch der Änderung mit weiterem Kontakt fruchtete.
Für mich war der Kontakt-Abbruch eine immense Befreiung, wie eine Neugeburt. Mit meiner klaren Entscheidung, akzeptiert es auch mein Umfeld.
Ich habe meinen Frieden mit meiner Mutter gefunden. Ich habe das alte Muster durchbrochen und sie hat somit auch die Möglichkeit, etwas zu verändern. Ob sie es tut, ist ihre Sache.
Liebe Grüße, Corina Nijaa’Elena
Liebe Corina Nijaa’Elena,
deine Worte haben Tiefe, Kraft und zeigen einen ehrlichen Weg der Selbstverantwortung und Weiterentwicklung. Du hast trotz Liebe, Sehnsucht und vielfacher Versuche – erkannt, dass ein Kontakt keine Heilung bringt, sondern fortwährenden Schmerz. Für dich bedeutet der Abbruch nicht Ablehnung, sondern Selbstschutz und einen radikalen Akt der Selbstfürsorge. Auch das verdient Respekt.
Die Aussage „es ist doch deine Mutter“ kann wie eine Kette wirken – sie bindet an ein Bild, das der Realität oft nicht gerecht wird. Wahre Verbindung entsteht nicht aus Pflicht, sondern aus gegenseitiger Bereitschaft, sich ehrlich zu begegnen – und manchmal bedeutet Liebe auch, loszulassen.
Manche Kinder müssen zuerst sich selbst retten, um überhaupt irgendwann in eine innere Aussöhnung zu finden – manchmal ohne den anderen, aber immer mit einem tiefen Wunsch nach Frieden.
Von Herzen
Petra
Aus tiefstem Herzen Dankeschön, liebe Petra. Deine Antwort hat mich tief berührt ❤️❤️❤️
P.S. Mein Kontaktabbruch fand schon 2009 statt.
Grüß Gott, ich finde keine Worte wie schmerzhaft, demütigend es ist, wenn Eltern verstoßen werden mit Beschuldigungen wie „Ihr seid zum Kotzen, Ihr seid die Eltern Ihr müsst es wissen…etc .“ . Bedingungslose Liebe, unsere Lebenskraft, Körper, Seele, die Freiheit zur Selbstfindung haben wir geschenkt ! Auch Eltern haben ein Recht auf Weiterentwicklung. Niemand hat uns gelehrt, perfekte Elter, ein perfektes Vorbild zu sein, das wir sehr sehr gerne gewesen wären. Ist es nicht fair, sich zusammen auseinander zusetzen, sich gegenseitig kennen zu lernen, offen zu sein, sich auszutauschen, wer wir heute wirklich sind ? Die Schule des Lebens dauert von Geburt bis zum Tod und ist eine enorme Herausforderung. Machen es diese Kinder „besser“ als wir Eltern indem sie uns verstoßen ? Der kleine Krieg vom großen Krieg, der in der kleinsten Zelle, der Familie beginnt ? Wir Eltern sind auch Menschen ! Traurig, wie rundherum alles zerfällt in eine Wegwerfgesellschaft! Renate Moschner
Liebe Renate, ich achte Deine Worte, möchte aber darauf hinweisen, dass es in diesem sehr achtsam formulierten Artikel keineswegs um den von dir angeschlagenen Ton von grober Missachtung der Eltern geht, sondern um eine hoffentlich heilende Annäherung für Eltern und Kinder an dieses Konflikt-Thema.
Danke für den Hinweis ! Derartige Artikel sind Stiche in meine Wunde. Jede unserer vorsichtige Annäherungsversuche einer gegenseitigen Heilung scheiterte ! Meine Kinder haben mir ihre Verletzungen seit 35 Jahren zurück gezahlt. Jede Heilung bedeutet Heilung für alle Mütter, die seit Generationen bis heute in den Kriegen so furchtbar um ihre Kinder weinen. Die Welt benötigt dringend Mitgefühl und Heilung! Nichts anderes dient der Welt. Renate Moschner, Mutter von Ruth und Anja Moschner
Liebe Renate,
vielen Dank, dass du deine tiefen Gefühle und deine Erfahrungen so offen teilst. Es berührt mich sehr, wie schwer und schmerzhaft die Jahre für dich gewesen sein müssen. Deine Worte spiegeln eine tiefe Sehnsucht nach Heilung und Mitgefühl wider, die in unserer Welt so dringend gebraucht werden.
Es ist verständlich, dass die Wunden, die über so lange Zeit entstanden sind, schwer zu heilen sind. Deine Bereitschaft, diese Themen anzusprechen und den Wunsch nach Heilung zu äußern, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Mitgefühl – für sich selbst und für andere.
Möge die Kraft der Verbundenheit und des Verständnisses dir immer wieder neue Wege der Heilung eröffnen. Deine Stimme ist ein wertvoller Beitrag für eine Welt, die mehr Liebe und Mitgefühl braucht.
Ich wünsche dir viel Kraft, Wärme und Zuversicht auf deinem Weg.
Herzliche Grüße
Petra