Die Mauer

Eine Gruppe buddhistischer Mönche kaufte ein Stück Land, um dort ein Kloster erbauen zu lassen. Nach dem Ankauf des Landes waren die finanziellen Mittel erschöpft, und so beschlossen die Mönche, die Bauarbeiten selbst zu übernehmen. Einer der Mönche begann mit den Maurerarbeiten, obwohl er sich mit dieser Art von Arbeit überhaupt nicht auskannte.

Für Außenstehende mögen Maurerarbeiten vielleicht ganz einfach aussehen: Man gibt etwas Mörtel auf einen Ziegelstein, legt den Stein an den richtigen Ort und klopft ihn mit der Maurerkelle fest. Für den Mönch jedoch, der noch nie zuvor eine Maurerkelle und einen Ziegelstein in seinen Händen gehalten hatte, war dies gar nicht so einfach. Während er mit der Maurerkelle auf eine Ecke des Backsteins klopfte, um ihn schön waagerecht zu bekommen, kam eine andere Ecke des Steins wieder nach oben. Wenn er auf diese Ecke klopfte, verschob sich der gesamte Stein. Brachte er den Stein wieder zurück in die gewünschte Position, so musste er feststellen, dass die erste Ecke des Steins wieder höher stand. Dieses Ritual wiederholte sich wieder und wieder und wieder. Der Mönch verzweifelte langsam immer mehr.

Aber Mönche üben sich in Geduld. Unser Mönch probierte, jeden Stein genau an die richtige Stelle zu legen, und es war ihm egal, wie viel Zeit er dafür benötigte. Und eines Tages war die erste Mauer fertig. Voller Stolz trat er ein paar Schritte zurück, um sein Werk zu betrachten. Und da sah er voller Entsetzen, dass zwei Steine die Regelmäßigkeit störten. Alle anderen Steine lagen perfekt an Ort und Stelle, aber zwei Steine in der Mauer waren schief. Ein fürchterlicher Anblick. Nur zwei Steine, aber sie verdarben den Anblick der gesamten Mauer. Der Mörtel war inzwischen hart geworden, daher konnte der Mönch die Steine nicht einfach aus der Mauer herausnehmen und sie begradigen. Er ging zum Abt und fragte diesen, ob er die Mauer abreißen und von vorne beginnen sollte. „Nein“, sei der Abt, „lass die Mauer stehen, so wie sie ist.“

Dann kamen die ersten Besucher, die sehen wollten, wie weit die Arbeiten für das neue Kloster fortgeschritten waren. Der Mönch zeigte ihnen jedoch nie die Mauer, die er gemauert hatte, er schämte sich dafür. Eines Tages kam ein Besucher, der alles sehen wollte. Sein Blick fiel auf die Mauer.„Das ist eine schöne Mauer“, sagte er.
Der Mönch schaute ihn verdutzt an. „Mein Herr, haben Sie vielleicht Ihre Brille im Auto liegen lassen oder sehen sie nicht so gut? Sehen Sie nicht die zwei schiefen Backsteine, die die gesamte Mauer verunstalten?“ Die folgenden Worte des Besuchers veränderten den Blick des Mönchs auf seine Mauer, auf sich selbst und auf viele Aspekte des Lebens. „Ja“, sagte der Besucher, „ich sehe die beiden schiefen Steine, aber ich sehe auch die 998 perfekt liegenden Steine.“

Der Mönch war verblüfft. Zum ersten Mal seit Monaten sah er neben den zwei schiefen Steinen auch die anderen Backsteine. Ober- und unterhalb der schiefen Steine, auf deren linken und rechten Seite lagen die anderen Steine in wunderschöner Regelmäßigkeit. Gegenüber den zwei aus der Reihe tanzenden Steinen bildeten sie die überwältigende Mehrheit. Bis zu diesem Moment war der Mönch ausschließlich auf seine zwei Fehler fixiert, und für alles andere war er blind gewesen. Nach den Worten des Besuchers sah er zum ersten Mal die gesamte Mauer, und er erkannte, dass es eine schöne Mauer war.

Nun aber wusste er: Jeder Mensch hat ein paar schiefe Steine, aber die guten Steine sind eindeutig in der Überzahl.

Wenn Sie dies sehen können, sieht die Welt anders aus – und es verändert sich auch der Umgang mit Ihren Mitmenschen.

Danke an das Geschichtennetzwerk für diesen Impuls!

Foto: Geschichten Netzwerk

 

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3 Kommentare zu “Die Mauer
  1. rolf sagt:

    das ist aus „Die Kuh, die weinte“, von Ajahn Brahms, oder?
    sehr tolles buch!

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