Schmerz als Tor

Foto: Martina Seifert

Von Martina Seifert. Mit Schmerz beginnt unser Leben – der Schmerz unserer Geburt. Idealerweise mündet dieses schmerzhafte Erleben in den Armen der Mutter mit der direkten Erfahrung von Liebe.

Schmerz als Tor zum Leben

Haben wir das Glück und werden Zeuge/in einer Geburt, sind wir zutiefst berührt. Wir sehen den Schmerz, der uns vielleicht an die eigene Geburt erinnert – das schmerzhafte Erleben der Wehen, geprägt von Uterus-Kontraktionen, das Drängen durch den Geburtskanal, nachdem sich der Muttermund geöffnet hat, und der immense Druck auf Kopf und Körper, wenn sich der Fötus allmählich vom Mutterleib trennt.

Zugleich aber erleben wir die unbeschreibliche Freude, die Sanftheit und Zärtlichkeit der Mutter, wenn sie ihr Kind in ihren Armen empfängt, ein Bild vollkommener Entspannung. Überwältigt von dem Wunder des Lebens möchten wir uns diesem am liebsten zu Füßen werfen.
Buddhas Gleichnis von den zwei Pfeilen

Unserer Geburt folgen unweigerlich weitere Schmerzen – emotionale, mentale und körperliche. Schmerzen, wenn der Hunger nicht gestillt wird oder Wärme und Geborgenheit fehlen, Schmerzen bei der Verdauung oder Zahnung, beim ersten Sturz oder Liebeskummer, Schmerzen bei Krankheit oder bei Verlust eines geliebten Menschen.

Eins ist gewiss – der Schmerz gehört zu unserem Leben wie die Freude – ohne Ausnahme. Warum also Widerstand leisten? Warum sich gegen etwas wehren, was sowieso da ist? Eine überlieferte Geschichte des Buddhas greift genau dieses Dilemma auf. Immer wieder im Leben werden wir mit Schmerz konfrontiert. Buddha verwendet an dieser Stelle des Gleichnisses die Metapher des ersten uns treffenden Pfeils, der für den unvermeidbaren Schmerz steht. Vermeidbar allerdings ist der zweite Pfeil, der Schmerz, den wir uns anschließend durch unsere geistigen Reaktionen selbst zufügen.

Verbrenne ich mich beispielsweise beim Kochen an der Herdplatte, spüre ich unmittelbar einen heftigen Schmerz, ein natürliches Warnsignal des Körpers, das mich vor weiteren Verletzungen schützen soll. Der akute Verbrennungsschmerz ist der erste Pfeil, der mich trifft. Anschließend aber quälen mich zusätzlich heillose Gedanken wie: „Warum bin ich nur so unachtsam?“ oder „Warum passiert das immer nur mir?“. Mich trifft der zweite, vermeidbare Pfeil, meine emotionalen Reaktionen, die dafür sorgen, dass der Schmerz zunimmt. Alles in mir lehnt sich auf, rebelliert. Die Konsequenz: der Körper spannt sich noch mehr an, der Schmerz verdichtet sich und schließlich fühle ich mich von allem abgetrennt. Ein heilloser Kampf hat begonnen.

Schmerz als Tor zum Mitgefühl

Warum empfinden wir nicht Mitgefühl mit unserem Schmerz? Warum schenken wir uns selbst nicht Trost, Mut und Vertrauen in ohnehin schon schmerzlichen Situationen, sodass sich der Körper entspannen kann? Eine bekannte Dhammalehrerin sagte einmal, dass der Schmerz der Liebe bedürfe. Ein wundervoller Rat, der sich strahlend hell von unserem von Widerstand und Abwehr geprägten Geist abhebt.

Die aus dem tibetischen Buddhismus bekannte Meditationsübung Tonglen ist die große Kunst, Leiden in Mitgefühl zu verwandeln. Wenn wir Schmerz erleiden, hilft uns diese Praxis des Gebens und Empfangens, nicht nur Mitgefühl mit uns selbst zu empfinden, sondern auch mit allen anderen, die ähnlichen Schmerz erleiden. Schmerzt mich beispielsweise die Trennung von einem geliebten Menschen, stelle ich mir alle Menschen vor, die unter Trennungsschmerz leiden, atme diese dunkle Wolke aller Leidenden ein und atme Mitgefühl und Glück aus. Diese Atempraxis kultiviert nicht nur (Selbst)Liebe und (Selbst)Mitgefühl in unserem Herzen, sondern verbindet uns auch mit allen fühlenden Wesen, sodass wir uns nicht mehr getrennt fühlen.

Kosmischer Schmerz

Nicht nur im Buddhismus spielt das Leiden respektive der Schmerz eine zentrale Rolle. Auch die Sufis wissen um die große Kraft des Schmerzes wie folgende Sufi-Belehrung zeigt – Worte, die uns Zuflucht bieten, unser Vertrauen wecken und die Illusion des Getrenntseins auflösen, wenn wir, vom Schmerz überfordert, verzweifeln und uns verlassen und ängstlich fühlen:

Überwinde alle Bitterkeit, die dich befallen haben mag, weil du der Größe des Schmerzes, der dir überantwortet wurde, nicht gewachsen warst. Wie die Mutter der Welt, die den Schmerz der Welt in ihrem Herzen trägt – jede und jeder von uns ist Teil ihres Herzens und deshalb ausgestattet mit einem gewissen Maß an kosmischen Schmerz.

Hintergrund: Der Artikel erschien erstmalig auf www.heilnetz.de im Rahmen des Heilnetz-Thema des Monats

Zur Autorin: Martina Seifert ist Online-Redakteurin & freie Autorin, Studium der Germanistik, Literaturwissenschaft und Philosophie, seit 2000 schreibend im Netz unterwegs, vertraut mit Text, Redaktion, Pressearbeit und Online-Marketing, Mitglied im Fachverband freier Werbetexter und nicht zuletzt – beherzte Yogalehrerin.

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