Ein positiver Blick auf Demenz

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Von Daniela Große. Wenn Du beruflich oder privat mit Demenz zu tun hast, dann weißt Du aus eigener Erfahrung, wie anstrengend und erschöpfend das sein kann. Aber es gibt auch gute Dinge, die mit einer Demenz in das Leben Einzug halten. Nachfolgend schreibe ich über solche Chancen.

Menschen mit Demenz vergessen nach und nach, was sie ihr Leben lang vergessen wollten. Dabei tritt der kontrollierende Verstand immer mehr in den Hintergrund und hochsensibles Fühlen wird immer präsenter. Ganze verdrängte Gefühlswelten aus der Vergangenheit können sich mit der Gegenwart vermischen und zur Realität werden.

„Es wird nicht einfach sein.
Bitte, lass mich nicht allein:
mit meinen sensiblen Sinnen
und den Konflikten tief drinnen,
auch wenn mein Herz bricht,
ob ich will oder nicht.
Bitte, geh diesen Weg mit mir:
Dafür danke ich Dir.“

Als Begleiter sind wir dadurch besonders gefordert. Denn die Reaktion eines Menschen mit Demenz auf unsere Aktionen können mehr mit der Vergangenheit des Menschen mit Demenz als mit der Gegenwart von uns zu tun haben.

Wo wir vernünftig handeln, reagiert der Andere mit intuitivem Fühlen. Ich habe mich oft in der Gegenwart eines Menschen mit Demenz nackt gefühlt, aber auch gesehen. Meiner Erfahrung nach ist es nicht möglich, sich in der Gegenwart eines Menschen mit Demenz zu verstecken. Alles, was ich an Gedanken und Gefühlen verberge, fühlt der andere und reagiert darauf. Meistens mit entsprechendem Widerstand, weil die äußeren Sinneseindrücke (mein schöner Schein) nicht mit den inneren Sinneseindrücken (dem wahren Sein) übereinstimmen.

An die eigenen Grenzen gehen

Ein Mensch mit Demenz ist in der Lage, innerhalb kürzester Zeit und zielsicher meine roten Knöpfe zu drücken und mich direkt an meine Grenzen zu bringen. Dahin, wo es weh tut. Nicht mit Absicht oder um mich zu ärgern, sondern einfach nur, weil ein Mensch mit Demenz eben ist, wie er ist. In ihm heilen alte Traumata, während er durch die Demenz geht.

Für mich ist es eine wohltuende Erfahrung, diese Chance zu nutzen. Ich habe mich für einen bewussten Umgang mit Demenz entschieden. Statt Selbstverrat, Selbstaufopferung und Selbsthass arbeite ich mit Selbstreflexion, Selbstfürsorge und Selbstliebe. Ich bin mir bewusst, dass ich in einer Begegnung den Menschen mit Demenz durch seinen äußeren Alltag führe, während er mir folgt. Innerlich aber bin ich diejenige, die folgt, während der Mensch mit Demenz mich durch meine Themen führt.

Es lohnt sich sehr, zuerst auf mich zu schauen. Was jetzt präsent ist, ist wichtig für mich und darf, so wie es ist, auch da sein. Ich beobachte, was in mir gerade wirklich los ist, wenn mir der andere meine roten Knöpfe drückt. Ich erkenne die Zusammenhänge mit anderen Situationen in meinem Leben – erlebten vergangenen und erwünschten zukünftigen Situationen. Bevor ich handle, prüfe ich meine Möglichkeiten.

Mir selbst im Anderen begegnen

Umso mehr ich mich mit meinen getriggerten Themen beschäftige, desto mehr spüre ich meine Sehnsucht nach Frieden, Freude, Freiheit und Fülle. Menschen mit Demenz holen in mir das ans Tageslicht, was mich davon abhält, diese Dinge in meinem Alltag dauerhaft zu erleben. Meistens sind das Muster und Konditionierungen, die mir bisher einfach nicht bewusst waren.

Demenz ist eine Chance, mich selbst und den Anderen neu kennenzulernen. Ich erfahre, was den Anderen zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist. Ich lerne durch die Demenz seine verdrängten Erfahrungen kennen, die sein Leben nachhaltig geprägt haben.

Wenn es ein Elternteil ist, der in die Demenz geht, dann bekomme ich dadurch einen Einblick in meine eigene Kindheit und die Möglichkeit nachzuvollziehen, warum sie so war, wie sie eben war. Ist es mein Partner, der sich für eine Demenz entscheidet, dann offenbaren sich mir die Gründe für dessen Eigenheiten, die ich bis dahin vielleicht nie verstanden habe. Und wenn ich beruflich Menschen mit Demenz begleite, dann sind die Reize so intensiv, dass ich mein komplettes Sein hinterfragen kann: Warum tue ich, was ich tue?

Den gemeinsamen Weg genießen

Während ich den Anderen zu verstehen versuche, verstehe ich mich selbst. Meiner Erfahrung nach weicht in diesem Prozess die mir innewohnende Härte auf. Ich werde innerlich beweglicher und das wirkt sich auch auf mein äußeres Handeln aus. Demenz ist nichts, was weg gemacht oder bestmöglich kompensiert werden muss. Demenz ist ein gemeinsamer Heilungsweg der Seelen, der beim Gehen genossen werden darf:

Ein verständnisvoller Blick. Eine gehaltene Hand. Eine liebevolle Umarmung. Ein wortloses Verstehen. Ein gemeinsam erlebtes Gefühl. Ein einfacher Spaziergang. Da sein dürfen. Verletzlich sein können. Stärke spüren in der Schwäche. Jeder für sich und doch zusammen. Die einfachen Dinge im Leben.

Wenn ich heute einem Menschen mit Demenz begegne, dann sehe ich dessen Mut, auf einem schweren Weg voran zu gehen – auf einem Weg, der ihn und seine Begleiter zurück in die eigene Mitte führt. Dahin, wo sich jeder Mensch von uns am wohlsten fühlt. Und ich halte Ausschau nach allem, was mich als Begleiter und den Menschen mit Demenz in unserer Mitte hält. Statt geplanter Aktivierung liebe ich das ungeplante Nutzen der Möglichkeiten, die sich gerade bieten: um immer das Beste aus dem zu machen, was heute zu machen geht. Wir leben nach vorne, während sich ordnet, was hinter uns liegt.

Daniela Große

Über Daniela Große: Ich helfe hochsensiblen Menschen, durch Selbstreflexion, Selbstfürsorge und Selbstliebe zu einem bewussten Umgang mit Demenz, Behinderung, Mangel oder Trennung im Leben zu finden. Du übst, Dich zu fokussieren, mit Deiner Situation zu sein und mit ihr zu atmen, kleine Schritte machend. Erfahre mehr über das Bewusstseinstraining: https://danielagrosse.de

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9 Kommentare zu “Ein positiver Blick auf Demenz
  1. Sylvia sagt:

    Großartige WahrNehmung, Sicht.weise und EinBlicke – danke <3

  2. Ute Bergmann sagt:

    Jaaaa 💖🙏💖 Vielen Dank 🙏💖🙏💖🙏

  3. Dörte Luna'Him sagt:

    Herzlichen Dank für diesen wunderbaren Blickwinkel auf die Demenz.
    Es zeigt mal wieder, dass jede Situation und jeder Mensch segensreich sein kann, sobald wir uns dafür öffnen und vom gewohnten Denk- und Reaktionsschema abweichen.
    💕

  4. Susanne sagt:

    Vielen Dank für diesen Artikel.
    Der für mich schönste und wichtigste Satz ist:
    „In ihm heilen alte Traumata, während er durch die Demenz geht.“

    Das ist das Tröstlichste, was ich je gelesen habe zu diesem Thema.
    Die Vorstellung, dass sich ein dementer Mensch in einer Heilungsphase befindet, ist ein wahres Geschenk und verändert alles zum Guten hin.

    Vielen, vielen Dank für diesen Satz!

    Susanne

  5. Saran sagt:

    Danke Daniela. JA! Ich habe meinen Schwiegervater jede Woche besucht bis zu seinem Ende. Er war am Ende ganz im Jetzt. Er spürte seine Emotionen und meine Liebe. Nache einem Leben ohne Emotionen kamen sie jetzt zum Tragen. Das war sehr schön. Bis dahin war es ein langer Weg. Auf dem er manchmal sehr wütend war, weil er merkte, wie ihm allmählich alles Vergangene verließ. Das hat Weh getan und ihm manchmal zum Verzweifeln gebracht. Oder war es am Ende Resignation? Ich kann sowieso nix ändern; kann hier nicht weg. Bei meiner Mutter war das anders. Sie vergaß zwar Alles, war aber im Moment sehr präsent. Hat immer mehr vor Glück gestrahlt. Und mich bis zum Schluß erkannt. Mein Schwiegervater nicht: für ihn war ich ein netter Mensch, der ihm sehr nah war. Händchen halten während er manchmal schlief. Oder einfach in seiner Nähe sein. Das reichte am Ende. Das war LIEBE pur. Danke Ma und Schwiegervater und mich.

  6. Sylvia sagt:

    Liebe Daniela,
    Auch ich schließe mich dem Dankesreigen an. Einfühlsam das Erlebte geschrieben.
    Der Satz, dass Traumata heilen, hat mich tief berührt. So was von WAHR.
    DANKE, danke, DANKE!!

  7. Renate Kamp sagt:

    Auch ich habe einen lieben Menschen (meinen Mann} zuhause, der an einer beginnend Demenz leidet. Es ist schon sehr schwer im Alltag. Wie sagt man er behält nicht von 12 Uhr bis Mittag 🕛. Wenn ich dann sage, dass ich es schon gesagt habe wird mein Mann bitterböse und auch manchmal beleidigend. Es tut dann schon sehr weh, aber im nächsten Moment können wir wiederum lachen. Meine Hoffnung ist, dass es nicht so schnell voranschreitet. Ich liebe meinen Mann trotz Beleidigungen und böse werden. Letztendlich sind wir schon 52 Jahre verheiratet.!

    • Mia Miriam sagt:

      Liebe Renate, dein Beitrag berührt mich, da ich in ähnlicher Lage war vor vielen Jahren. Es gibt ein Buch, das ich dir gerne ans Herz legen mag. Es heißt „Das Herz wird nicht dement. Rat für Pflegende und Angehörige“ von Udo Baer und Gabi Schotte-Lange, erschienen im Beltz Verlag. Ich hab es als wärmend und wohltuend erlebt. Und ich mag dir auch ans Herz legen, eine Selbsthilfegruppe für dich, vielleicht auch für euch beide (dich UND deinen Mann) zu finden. Wir dürfen uns auf der Herzebene nicht alleine lassen, wenn wir in solchen großen Lebens-Herausforderungen gehen. Und sich mit Menschen zu verbinden, die ebensolches erleben wie wir und die ebenso wie wir mehr Fragen als Antworten haben schenkt eine Form der Erleichterung, die wir so sehr notwendig brauchen. Alle guten Wünsche für deinen und euren Weg!

  8. Elisabeth Darius sagt:

    Ich möchte mich für diesen wertvollen Beitrag aus tiefstem Herzen bedanken. Er ist sehr gut erklärend. Ich begleite tel. meine 94-jährige Tante, die immer dementer wird und oft sehr traurig darüber ist, gleichzeitig immer weicher, zärtlicher, empfindsamer.
    JA, manches mal fällt es mir schwer, aber ich sehe es ebenfalls als Lernen im Leben und als eine Bereicherung an.
    Und ich danke mir dafür, dass ich diese Herausfordeung angenommen habe.

    Vielen Dank für diesen Beitrag ❤ ❤

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