Eine kleine Geschichte der Grenzen

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Claudia Shkatov. Ich bin in einem Europa aufgewachsen, das seine Grenzen auflöste. Meine Kindheit verbrachte ich im Dreiländereck Deutschland-Holland-Belgien. Und ich erinnere mich gut daran, wie meine Freunde und ich eines Tages einfach so mit unseren Fahrrädern die ehemaligen kleinen Grenzposten zwischen den Ländern passierten, ohne unsere Pässe vorzeigen zu müssen. Es war ein schönes Gefühl von Freiheit und Weite. Und es hatte auch etwas von Sich-Wundern und Staunen und ein bisschen Ungläubigkeit.

Mit etwa 16 Jahren fuhr ich zum ersten Mal im Leben von Westdeutschland durch die DDR nach Berlin und erlebte hier eine Art extremer Grenzziehung, die mich zutiefst verstörte. Ich spürte diese Grenze mitten durch unser Land hindurch als kalte Beklemmung in meinem ganzen Körper und beschloss, erst wieder nach Berlin zurückzukehren, sobald sie verschwunden wäre.

10 Jahre später fiel die Mauer, und ich war Teil der Menschenmenge, die im Begeisterungstaumel der Silvesternacht von 1989 die Grenzkontrollen im Tränenpalast der S-Bahnstation Friedrichstrasse durchbrach.

1994 lernte ich schließlich in Moskau meinen Mann kennen und zog nach Russland. Wieder eine Grenzerfahrung für mich. Reisefreiheit zwischen unseren Ländern gibt es bis heute nicht. Das Land war und ist immer noch voller geheimer und offensichtlicher Grenzen, Begrenzungen und Abgrenzungen, die sich nur langsam verschieben oder auflösen. Der ‚eiserne Vorhang’, eine Grenze zwischen politischen Gesinnungen, zwischen Ost und West, und mitten durch viele Köpfe und Herzen hindurch, ist immer noch deutlich spürbar. Und mich macht das traurig.

Grenzen in Beziehungen

Nun sitze ich hier fast ein Vierteljahrhundert später in unserem Haus vor den Toren Berlins, sozusagen mitten im ehemaligen Grenzstreifen – und denke über Grenzen und Abgrenzung in Beziehungen als Frau, Ehefrau und als Mutter insbesondere nach.

Grenzen sind so eine Sache für mich. Sie können trennen, unterdrücken und alle Lebendigkeit ersticken. Und wenn es sie gar nicht gibt, was passiert dann? Welche Rolle spielen sie zwischen Ländern? Und welche Bedeutung haben sie in persönlichen Beziehungen zwischen Menschen?

In meiner Ursprungsfamilie waren Grenzen verschwommen und kraftlos. Insbesondere die Frauen waren konditioniert auf Selbstlosigkeit und bedingungslose Liebe gegenüber ihren Männern und Kindern. Klare Grenzen zu ziehen war für eine Frau nicht normal. Der Beziehungsraum der Männer war nicht weniger unklar. Ebenso diffus im Kontakt wie ihre Frauen zogen sie zwar Grenzen. Doch dies geschah in der Regel durch Lautstärke oder Gewalt anstatt durch klare, bewusste Kommunikation. Für die Frauen blieb der Untergrund, nämlich Manipulation über Sex und Emotionen.
Dieses Muster hat in meiner Familie zahlreiche Trennungen und viele
Tränen verursacht. Es untergräbt zuverlässig Nähe und nährt ein tiefes Gefühl der Unwürdigkeit, Unsicherheit und Haltlosigkeit.

Heute weiß ich: Wir brauchen gesunde Grenzen. Und je klarer und stärker sie in meinem Inneren sind, und je konsequenter ich sie halte, um so weniger Grenzen brauche ich im Außen. Das erscheint vielleicht wie ein Widerspruch. Doch schau mal genauer hin.

Gesunde Grenzen

Was sind gesunde Grenzen? Und was unterscheidet sie von ungesunden?

Eine gesunde Grenze ist für mich das, was mich schützt vor dem, was mir nicht gut tut. Sie kann sich auf einen einzigen Moment beziehen oder Grundsätzlichkeit für mein Leben haben. Mein Barometer für das, was mir nicht guttut ist mein Körper. Er zeigt mir verlässlich an, wann ich mich überfordere und gibt mir rechtzeitige Zeichen, wenn ich mich in diese Richtung bewege.

Eine grundsätzliche Grenze ist für mich beispielsweise, dass ich in der Kommunikation mit einem anderen Menschen körperliche Zugewandtheit und Augenkontakt brauche, um ein wesentliches Gespräch führen zu können. Eine situationsbezogene Grenze könnte sein, dass ich so müde bin, dass ich einem Menschen, mit dem ich zwar gerade gern zusammen wäre, mitteile, dass ich ein kurzes Ausruhen brauche, und mich erst dann mit ihm treffen kann.

Ungesunde Grenzen sind die, die für mich selbst und andere nicht eindeutig formuliert sind und/oder von mir nicht durchgesetzt werden. Sie werden tendenziell aus Angst gesetzt und haben etwas Zwanghaftes an sich, weil sie dem, der sie setzt, in ihrer Sinnhaftigkeit nicht vollkommen oder gar nicht bewusst sind.

Ein Beispiel für eine ungesunde Grenze bei mir war jahrelang, dass ich mich immer entzog, wenn jemand mit mir im Gespräch wütend wurde. Ich hatte kein Bewusstsein dafür, was in mir passierte. Und ich war nicht in der Lage, klar zu formulieren und durchzusetzen, was ich brauchte.

Eine gesunde Grenze hingegen ist bewusst, wird klar kommuniziert und konsequent gehalten. Sie manipuliert nicht. Gesundes Grenzen-Setzen braucht intensive Selbstkenntnis.

Man könnte auch sagen, dass gesunde Grenzen solche sind, die aus einer bewussten Verantwortung sich selbst und anderen gegenüber gesetzt werden. Wohingegen ungesunde Grenzen per se aus (meist unbewusster) Angst entstehen.

Bewusste Grenzen bewirken Stärke, Sicherheit und Klarheit in einem Menschen und damit in Beziehungen. Wer sich und seine Grenzen kennt und für sich sorgt, der kann sich in Beziehungen leichter öffnen und Nähe zulassen. Denn dieser Mensch ist in sich sicher, kann sich auf sich selbst verlassen. Unbewusste Grenzen bewirken das genaue Gegenteil.

Ich habe einige Zeit gebraucht, um diese Zusammenhänge intellektuell zu verstehen. Sie auf einer tieferen Ebene zu begreifen, um sie dann auch wirklich in mein Leben integrieren zu können, hat wesentlich länger gedauert.

Heute weiß ich, dass von meiner Fähigkeit und Bereitschaft, mich selbst und meine Grenzen zu kennen, diese klar zu kommunizieren und auch konsequent zu halten, der Grad an Nähe und die Lebensdauer all meiner Beziehungen abhängen.

Grenzen, Präsenz & Tango

Ich habe außerdem gelernt, dass gesunde Grenzen ein wesentlicher Bestandteil von Präsenz sind. Niemand kann wahrhaft präsent mit sich und einem anderen Menschen sein, ohne ein sicheres Gespür für seine eigenen Grenzen und die des anderen zu haben. Wenn ich immer nur aushalte und durchhalte, um nur ja keinen Widerspruch, Irritation, Ärger oder Ablehnung zu provozieren, leidet meine Präsenz – meine Fähigkeit mit allen Sinnen im Moment, in meinem Körper und damit in der Verbindung mit einem anderen Menschen sein zu können.

Präsenz ist DER Weg in die Verbindung. Je präsenter ich mit mir und einem anderen bin, umso sicher fühlen wir uns beide. Und umso mehr können wir uns für uns selbst und für einander öffnen.

Meine Lieblingsmetapher in diesem Zusammenhang ist der Tango. Wer wirklich tanzen will, der braucht Präsenz im Körper und im Moment, eine klare Achse und eine feste Verbindung zum Boden. Nur dann wird es möglich, einander sicher zu halten und zu spüren und von hier aus in der gemeinsamen Verbindung entspannt zu führen und zu folgen, wirklich zuzuhören, zu genießen und kreativ zu sein.

Und ist es nicht das, was wir uns alle mit einander wünschen ☺?!

Grenzen, die uns inspirieren

Also, lernt Euch selbst kennen. Macht innere Arbeit. Meditiert. Setzt bewusste, klare Grenzen. Kommuniziert sie ehrlich. Und haltet sie ein.
Tut dies in all Euren Beziehungen. Seid offen und benennt Bullshit, wenn ihr ihn seht. Teilt Euch Euren Männern, Frauen, Freunden, Kunden, Nachbarn und Kindern mit. Und sorgt auf diese Weise gut für Euch. Dann könnt ihr auch gut für andere sorgen. Und ihr werdet für Euch selbst zu einem sicheren Ort, an dem Euch andere ohne Angst und Distanz begegnen können.

Liebe Mütter und Väter, Aufopferung ist keine bedingungslose Liebe. Und um einen anderen Menschen bedingungslos zu lieben, müsst Ihr zunächst Euch selbst bedingungslos lieben. Ich weiß, wenn unsere Kinder zur Welt kommen, dann geben wir uns insbesondere als Mütter oft erst einmal völlig auf. Wir haben gegenüber unseren Babys und Kleinkindern keine Grenzen mehr. Sind ganz und gar für sie da. Für eine gewisse Zeit ist das in Ordnung. Doch irgendwann muss meine Selbstliebe sich regen. Sonst werde ich zum Roboter, der langsam aber sicher in seinen ToDo-Listen und an seinem Perfektionsanspruch untergeht. Und meine Kinder finden keinen Halt im Leben. „The art of getting shit done.“, nennt diesen aktiven Untergang ein lieber Freund von mir.

Liebe Ehefrauen, Ehemänner, Partner und Partnerinnen, Eure Liebsten brauchen Eure klare Führung. Die gebt Ihr nicht, indem Ihr meckert und kritisiert, Euch im Bett entzieht, einen trinken geht, Euch abfindet, heimlich seufzt und ‚für die Kinder’ oder den gemeinsamen Kredit durchhaltet. Ohne klare Grenzen seid ihr konturlos, nicht spürbar und sichtbar. Nicht für Euch. Nicht für die Männer bzw. Frauen. Das verunsichert Euch und Eure PartnerInnen. Und es verunsichert Eure Kinder.

Findet heraus, was ihr braucht. Wer ihr seid. Ganz genau.
In den meisten Fällen wisst Ihr längst, wie es sich anfühlt, wenn etwas für Euch richtig ist.

„Mein Liebster/meine Liebste, Du bist der Mann/die Frau meines Lebens, und mit Dir will ich genau dies erleben und nicht jenes. Und anders geht es für mich nicht mehr.“ Das ist die Art von wertschätzender und mutiger Kommunikation, die führt. Du kalkulierst nicht mehr, Du manipulierst nicht mehr. Du kennst dich selbst und bist einfach klar und offen. Und Du kannst das Ergebnis nicht vorausberechnen. Doch Dein Kurs steht hoch. Du bist wertvoll. Und so behandelst Du dann auch Dein Gegenüber. Nur das ist die Art von Grenzsetzung, die einen Mann und eine Frau dazu inspiriert, es für Dich hinzukriegen.

Ich wünsche uns allen, Europa und der Welt diese Art von Grenzen. Zunächst im Innen. Und dann immer weniger im Außen.

„May love find you.
Even when you are specifically, strategically hiding from it.“
– Nayyira Waheed

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Claudia

Am Samstag, den 27. April 2019 ,  biete ich wieder einen meiner Langen Coachingtage – diesmal zum Thema Grenzen an. D.h., Du kannst eine 60-Minuten-Session für 99,- Euro in der Zeit von 07:00 bis 21:00 Uhr bei mir buchen. Warum der 27. April? Weil dieser Tag der letzte Portaltag dieses Monats ist. Also ein Tag an dem besondere Energien zur Verfügung stehen, um Dich in Deiner inneren Arbeit zu unterstützen, bevor Du in die Sommersonnenwende und das Fest der Lebenslust und Sinnlichkeit Beltane am 1. Mai gehst.

Claudia Shkatov
Herzenshörerin – Trainerin – Autorin
www.blissbow.de

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7 Kommentare zu “Eine kleine Geschichte der Grenzen
  1. Thomas sagt:

    Wow, super geschrieben!
    Ich kann das Geschriebene sehr gut nachvollziehen.
    Danke, für diese klaren Formulierungen!
    Hab das im Umgang mit meinen Kindern auch immer wieder so erlebt.

  2. Sylvia sagt:

    1000x DANKE für diesen inspirierenden Text, er berührt mich tief drin. Herzensgrüsse, Sylvia

  3. Dörte Luna'Him sagt:

    Genau – nur so kann ein Zusammenleben wirklich gelingen.

    Ganz herzlichen Dank auch von mir. Es tut immer wieder gut, solche Wahrheiten, die eigentlich selbstverständlich sein sollten, so schön klar formuliert zu finden.

  4. Ursula sagt:

    Hallo,
    dann machen wir in Europa ja im Moment genau das Falsche: wir öffnen erst aussen die Grenzen bevor wir fähig sind, sie im Inneren zu halten. Vielleicht ist das eine Erklärung dafür, dass es gerade so schwierig ist …..
    Liebe Grüße
    Ursula

  5. Saran sagt:

    Danke Claudia. Fühlt sich gut an. Obwohl ich das Wort „Grenze“ nicht mag. Ich sehe es mehr als ein mich vorsichtig öffnen. Jedem Wesenheit gegenüber. In Liebe offen. Und dann spüren, wie weit ich mich öffnen kann und mein Gegenüber sich öffnet/öffnen kann. Da gibt es eine schöne Übung, die ich an einem Tantrawochenende gelernt habe: Ich bewege mich im Raum. Mit meinen beiden Händen auf meinem Herzen. Wenn ich jemanden begegne, spüre ich zuerst, wie nah wir uns kommen mögen. Dann öffne ich mich indem ich vorsichtig und langsam eine Hand wegnehme. Achte darauf, wie der/die Andere darauf reagiert. Und, dann, wenn es nehme ich meine andere Hand weg. Und so weiter. Wenn ich spüre, dass es nicht weiter geht, schließe ich meinen Herzen wieder, indem beide Hände langsam wieder vor meinem Herzen kommen. Und verneige ich mich und gehe weiter. Ich mag diese Übung sehr.

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