Charles Eisenstein: Die Krönung

Von Charles Eisenstein. COVID-19 zeigt uns, dass ein unglaublich schneller Wandel möglich ist, wenn die Menschheit in einer gemeinsamen Sache vereint ist. Keines der Probleme unserer Welt ist technisch schwer zu lösen; sie rühren von der Uneinigkeit der Menschen her. Wenn die Menschheit kohärent handelt, sind ihre kreativen Kräfte grenzenlos.

Vor wenigen Monaten wäre eine weltweite Unterbrechung der kommerziellen Luftfahrt undenkbar gewesen, ebenso die radikalen Veränderungen in unserem gesellschaftlichen Verhalten, in der Wirtschaft und in der Rolle, die die Regierung in unserem Leben spielt. COVID-19 demonstriert die Macht unseres kollektiven Willens, wenn wir uns darauf einigen können, was wichtig ist. Was könnten wir mit einer solchen Kohärenz noch alles erreichen? Was möchten wir erreichen, und welche Welt wollen wir erschaffen? Das ist immer die erste Frage, die auftaucht, nachdem man sich der eigenen Macht bewusst geworden ist.

Eine Million Wege gabeln sich vor uns auf. Das Bedingungslose Grundeinkommen könnte der wirtschaftlichen Unsicherheit ein Ende bereiten und die Kreativität aufblühen lassen, indem Millionen von jener Arbeit befreit werden, die, wie uns das Coronavirus zeigt, weniger notwendig ist als bisher angenommen. Es könnte aber auch angesichts der Schließung kleiner Betriebe dazu kommen, dass die Abhängigkeit von staatlichen Geldern, die an strikte Bedingungen geknüpft sind, zunimmt. Die Krise könnte in den Totalitarismus oder in die Solidarität führen, zu medizinischem Kriegsrecht oder einem Wiedererwachen eines ganzheitlichen Ansatzes, zu einer größeren Furcht vor der Welt der Keime oder größerer Kompetenz im Umgang mit den Mikroorganismen, zu einer neuen, dauerhaften Norm des Abstandhaltens oder zu einem erneuten Wunsch, einander näher zu kommen.

Was kann uns als Einzelne und als Gesellschaft leiten, die wir durch diesen Garten sich verzweigender Wege gehen? An jeder Wegkreuzung können wir uns bewusst machen, wovon wir uns leiten lassen: Angst oder Liebe? Selbstschutz oder Großherzigkeit? Sollen wir in Angst leben und eine darauf basierende Gesellschaft errichten? Sollen wir leben, um unsere abgetrennten Egos zu wahren? Sollen wir die Krise als Waffe gegen unsere politischen Feinde nutzen? Dies sind keine alles-oder-nichts-Fragen, nur Angst oder nur Liebe. Sondern ein nächster Schritt in Richtung Liebe liegt vor uns. Er fühlt sich wagemutig an, aber nicht leichtsinnig. Er umspannt die Wertschätzung des Lebens und zugleich die Anerkennung des Todes. Er kommt aus dem Vertrauen darauf, dass mit jedem neuen Schritt der nächste sichtbar wird.

Ich werde zum Abschluss noch eine weitere Dimension der Beziehung zwischen Mensch und Virus ins Feld führen. Viren sind wesentlich für die Evolution, nicht nur die der Menschen, sondern aller Eukaryonten. Viren können DNA von einem Organismus zum anderen transportieren, manchmal auch in die Keimbahn (wodurch die Änderung erblich wird). Bekannt unter der Bezeichnung „Horizontaler Gentransfer“ ist das ein Grundmechanismus der Evolution, der es dem Leben ermöglicht, gemeinsam viel schneller zu evolvieren, als es durch rein zufällige Mutation möglich wäre. Lynn Margulis hat es einmal so ausgedrückt: „Wir sind unsere Viren.“

Und jetzt betrete ich spekulatives Terrain: Vielleicht haben die großen Krankheiten unserer Zivilisation unsere biologische und kulturelle Evolution beschleunigt, vielleicht verleihen sie uns genetische Schlüsselinformation und ermöglichen uns beides, eine individuelle und eine kollektive Initiation. Könnte die herrschende Pandemie genau das sein? Neue RNA-Codes breiten sich von Mensch zu Mensch aus und versorgen uns mit neuer genetischer Information. Gleichzeitig empfangen wir, gemeinsam mit den biologischen, andere, esoterische „Codes“, die unsere Narrative und Systeme unterbrechen – so wie die Krankheit die Physiologie des Körpers unterbricht. Das Phänomen folgt dem Muster einer Initiation: Eine Unterbrechung der Normalität gefolgt von einer Zwangslage, einem Zusammenbruch oder einer Feuerprobe, gefolgt von (wenn sie komplett sein soll) der Reintegration und einem Fest.

Jetzt stellt sich die Frage: eine Initiation in was? Was ist die genaue Natur und der Zweck dieser Initiation? Der Name des Virus gibt einen Hinweis: Coronavirus. Eine Corona ist eine Krone. „Neue Coronavirus Pandemie“ bedeutet: „eine neue Krönung für alle“.

Es ist schon zu spüren, welche Macht uns verliehen werden könnte. Ein wahrer Souverän läuft nicht weg aus Angst vor dem Leben oder Angst vor dem Tod. Ein wahrer Souverän beherrscht nicht und unterwirft nicht (das macht sein Schatten-Archetyp, der Tyrann). Ein wahrer Souverän dient den Menschen, dient dem Leben und respektiert die Souveränität aller Menschen. Die Krönung markiert das Hervortreten des Unbewussten in das Bewusste, die Kristallisation von Chaos in Ordnung, die Überwindung von Zwang und dessen Umwandlung in eine bewusste Entscheidung. Wir werden die Regenten dessen, was uns regiert hat. Die neue Weltordnung, die die Verschwörungstheoretiker fürchten, ist ein Schattenbild der grandiosen Möglichkeit, die souveränen Wesen offen steht. Nicht länger Vasallen der Angst, können wir Ordnung im Königreich machen und eine Gesellschaft aufbauen, die sich auf die Liebe einigt, die schon durch die Ritzen in der Welt der Getrenntheit schimmert.

Das ganze Essay „Die Krönung“ hier lesen

Kostenloser Talk mit Charles Eisenstein am 25.4.2020 hier anmelden

Charles Eisenstein, Jahrgang 1967, graduierte an der renommierten Yale University in Philosophie und Mathematik. Vertiefte Studien in Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte schlossen sich an. Unzufrieden mit der kompetitiven Struktur der Wirtschafts- und Arbeitswelt, arbeitete und lebte er lange Zeit als Dolmetscher in Taiwan. Persönliche und globale Krisensituationen führten ihn zu einer intensiven Beschäftigung mit der Body-Mind Medizin und -Philosophie. Heute gilt er als einer der wichtigsten Vordenker für eine ökologische, vom Geld unabhängigere Lebensweise. Er präsentiert seine Visionen als gefragter Vortragsredner, veranstaltet Seminare und verfasst Essays und Bücher.

Im Oktober 2019 erschien sein Buch Klima – Eine neue Perspektive. Hier kommt kommt Eisenstein zu dem Schluss, dass es nicht ausreicht, lediglich neue Formen der Energiegewinnung oder des Konsums einzuführen, um eine »nachhaltige Entwicklung« zu ermöglichen. Vielmehr bedarf es eines radikalen Umdenkens im Sinne von »Interbeing«, einem ganzheitlichen Fühlen und Handeln, das die Verbundenheit aller Menschen, aber auch die Verbundenheit von Mensch und Natur ins Zentrum stellt, um einen positiven Wandel zu ermöglichen. Wir alle müssen lernen, Verantwortung für unser Tun zu übernehmen, und zur Heilung unseres Ökosystems beitragen; denn nur so können wir eine Heilung unserer klimatischen und sozialen Systeme erreichen.

Eine schönere Welt ist möglich

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7 Kommentare zu “Charles Eisenstein: Die Krönung
  1. Lydia sagt:

    Ich freue mich sehr, dass Du diesen für mich genialen Text von Charles Eisenstein hier teilst.
    Er ist das beste und klarste, was ich bis jetzt zu Covid19 gelesen habe und hilft, eine größere Perspektive zu bekommen.
    Danke von Herzen für all die wunderbaren Newslichter!
    Lydia

  2. Sophia sagt:

    Als Frau mag ich lieber zyklisch denken, im Kommen und Gehen der Jahreszeiten im Monats- und Jahreskreis. Da darf es langsam gehen, sehr langsam sogar. Und ich höre und spüre nach innen.

    1, 2, 3, 4, 5G – eine Krone, Symbol technischer Überlegenheit, die Kopfschmerzen bereitet und sehr teuer wiegt.

    Mögen die Uneinigkeit und der Diskurs auch weiter mit uns sein dürfen.

    „Unter dem Stichwort ‚Diskurs‘ führte ich die durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation ein, in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden.“

    – Jürgen Habermas: Wahrheitstheorien

  3. Martin sagt:

    Wahnsinns-Text, wirklich tolle Sichtweise. Speziell der Punkt mit der neuen Weltordnung, trifft mich. Ich beschäftige mich seit zig Jahren mit den alternativen Theorien zum Weltgeschehen (die viel gescholtenen „Verschwörungstheorien“). Was mir in den Wochen von Corona immer deutlicher auffällt: selbst WENN diese Theorien näher an der „Wahrheit“ liegen, sie näheren dieselbe Energie wie der manipuliernde Gegenpol. Am Ende sehe ich es wie Eisenstein: an Corona und der neuen Weltordnung entscheidet sich, was man sieht (oder sehen will). Es ist eine einzigartige Chance für die Menschheit in der Gesamtheit, eine gigantische Weggabelung zwischen Liebe und Angst. Tief im Herzen spüre ich, dass der Weg für das Licht und die Liebe bereits geebnet ist, das Spiel der Angst wird zuende gehen. Wir stehen nur am Anfang dieses wunderbaren Prozesses.

  4. Danke für Eure Rückmeldung. Ich kann vieles aber nicht alles von diesen 19 Seiten (!) teilen, aber manches nicht. Aber als Impuls zum Diskurs (danke für die Einführung dieses Wortes) finde ich es super. Ich bin gespannt was Charles am Samstag neu teilen wird. Er selbst und wir alle sind ja im Prozess und es ist wunderbar, wenn wir ohne negative Ausgrenzungen einfach einander zuhören können und weiter kommen. Danke dafür!

  5. Simone sagt:

    Danke fürs Teilen dieses wunderbaren, ermutigenden Textes. Ich habe ihn in der Gesamtlänge gelesen und finde, dass es vielleicht das beste ist, was mir in diesen Tagen begegnet ist. Keine Polemik, keine Rechthaberei, keine Angstmacherei (egal von welchem Lager ausgehend), sondern ein Appell an jeden einzelnen, mitzubestimmen und zu gestalten, wie wir leben wollen.
    Danke

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