Charles Eisenstein: Ein Aufruf zur Demut

Foto: Charles Eisenstein

Charles Eisenstein hat nach dem Artikel „Die Krönung“ wieder einen sehr differenzierten Beitrag diesmal zum „Verschwörungs-Mythos“ geschrieben. Am meisten hat mich den letzte Teil, der auch ein Aufruf ist, sich gegenseitig zuzuhören, beeindruckt, den ich gerne zweitveröffentlichte.

Ein Aufruf zur Demut

Ist dir schon einmal aufgefallen, dass die Dinge sich oft scheinbar so fügen, dass sie dein Weltbild bestätigen? Einiges davon kann durch selektive Wahrnehmung und Voreingenommenheit erklärt werden, aber ich denke, dass auch noch etwas Seltsameres passiert. Wenn wir in einen tiefen Glauben oder in tiefe Paranoia verfallen, scheint dieser Zustand Ereignisse, die unseren Glauben bestätigen, geradezu anzuziehen. Die Realität passt sich an, sodass sie unsere Geschichten bestätigt. In gewisser Weise IST dies eine Verschwörung, aber keine, die von Menschen angezettelt wird. Das mag eine weitere Wahrheit sein, welche der Verschwörungs-Mythos enthält: die Gegenwart einer organisierenden Intelligenz hinter den Ereignissen in unserem Leben.

Damit ist aber keineswegs jenes New Age – Allheilmittel gemeint, Glauben könne Realität erschaffen. Es ist eher so, dass Realität und Glauben einander bedingen und sich als ein zusammenhängendes Ganzes entwickeln. Die enge mystische Verbindung zwischen Mythos und Realität bedeutet vielmehr, dass Überzeugungen eigentlich nie den Tatsachen untergeordnet sind. Wir sind der Souverän der Tatsachen – was nicht bedeutet, dass wir ihr Schöpfer sind. Ihr Souverän zu sein, bedeutet auch nicht, ihr Tyrann zu sein, sie respektlos zu behandeln oder sie aufzuheben. Die weise Monarchin schenkt ihren widerspenstigen Untergebenen – wie einer Tatsache, welche dem Narrativ widerspricht – ihre ganze Aufmerksamkeit. Möglicherweise ist es nur ein gestörter Querulant, wie vielleicht eine simple Lüge, aber vielleicht weist er auch auf ein Unbehagen im Königreich hin. Vielleicht ist das Königreich gar nicht mehr legitim. Oder der Mythos stimmt nicht mehr. Es könnte auch gut sein, dass abweichende Ansichten über COVID-19 deshalb so heftig attackiert und als Verschwörungstheorien diffamiert werden, weil die orthodoxen Paradigmen, die hier auf dem Spiel stehen, schon so geschwächt sind.

Aber selbst wenn das so ist, bedeutet das nicht, dass die orthodoxen Paradigmen allesamt falsch sind. Wenn man sich von einer Gewissheit gleich zur Nächsten rettet, übergeht man das heilige Zwischenreich der Unsicherheit, des Nichtwissens, der Demut, in dem wahrlich neue Information entstehen darf. Was die Gelehrten einer jeden Überzeugung eint, ist ihre Überzeugtheit. Wer ist wirklich vertrauenswürdig? Letzten Endes sind es diejenigen, die demutsvoll eingestehen können, dass sie unrecht gehabt haben.

Ich würde gerne folgende Frage an jene unter euch stellen, die sämtliche kritischen Meldungen, in denen die Schulmedizin, Lockdown-Politik, Impfungen, usw. ernsthaft hinterfragt werden, kategorisch abweisen: Braucht ihr denn so hohe Mauern um euer Königreich? Wäre es denn so schmerzhaft, diesen widerspenstigen Untertanen eine Audienz zu gewähren, anstatt sie in die Verbannung zu jagen? Wäre es so gefährlich, vielleicht einmal eine Reise durch ein anderes Königreich zu wagen, und zwar nicht in Begleitung deiner eigenen loyalen Minister, sondern gemeinsam mit den intelligentesten, freundlichsten Anhängern der anderen Seite? Falls Du nicht so viel Zeit für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit abweichenden Meinungen opfern möchtest, in Ordnung. Ich bin auch lieber in meinem Garten. Andererseits, wenn du eine so überzeugte Anhängerin deiner Geschichte bist, was soll schon passieren, wenn du einmal das feindliche Territorium besichtigst? Getreue Anhänger machen so etwas normalerweise nicht. Sie verlassen sich strikt darauf, was ihre eigenen Führer über den Feind sagen. Sollten sie irgendetwas über die Ansichten von Robert F. Kennedy Jr. oder Judy Mikowitz wissen, dann sicherlich durch die Brille jemandes, der sie entlarvt hat. Dann hör dir doch mal an, was Kennedy zu sagen hat, oder wenn Du lieber nur Ärzte hören möchtest, probier’s mal mit David Katz, Zach Bush oder Christiane Nortrup,

Dieselbe Einladung möchte ich an all jene aussprechen, die die konventionelle Sichtweise ablehnen. Finde doch mal die gewissenhaftesten Mainstream-Ärzte und Wissenschaftlerinnen, die du kennst, und tauche in ihre Welt ein. Nimm dabei die Haltung eines respektvollen Gastes, nicht die eines feindseligen Spions ein. Egal, welche Ansichten du mitbringst, sie werden ernsthaft herausgefordert werden. Das garantiere ich dir. Die Pracht der konventionellen Virologie, die Wunder der Chemie, entdeckt durch Generationen von Wissenschaftlern; die Klugheit und Aufrichtigkeit der meisten von ihnen und der authentische Altruismus von Menschen, die im Gesundheitswesen an vorderster Front stehen, die sich ohne politisches oder finanzielles Eigeninteresse den größten Risiken aussetzen; all dies muss auch Teil eines wirklich befriedigenden Narratives sein.

Nach zwei Monaten besessener Suche habe ich immer noch kein befriedigendes Narrativ gefunden, in dem alle verfügbaren Informationspuzzlestücke zusammenpassen. Daraus soll man nicht schließen, man könne gar nichts tun, denn Wissen sei ja nie endgültig sicher. Dem Gewühl der wettstreitenden Narrative und den unvereinbaren, zugrundeliegenden Mythologien zum Trotz können wir Handlungen anstreben, die abseits all dieser Geschichten sinnvoll sind. Wir können nach den Wahrheiten suchen, die im Qualm und Lärm des Schlachtengetümmels untergehen. Wir können die unhinterfragten Selbstverständlichkeiten beider Seiten in Frage stellen. Und wir können Fragen stellen, die noch von keiner Seite gestellt wurden. Wir können uns unparteiisch bewegen und von beiden Seiten lernen. Auf die Gesellschaft übertragen können wir, indem wir alle Stimmen, auch die marginalisierten, mit einbringen, einen breiteren sozialen Konsens schaffen und beginnen, die Polarisierung zu heilen, die unsere Gesellschaft zerreißt und lähmt.

Der ganzen Artikel in deutsch hier lesen

Den ganzen Artikel in englisch hier lesen.

Foto: Charles Eisenstein facebook

Charles Eisenstein, Jahrgang 1967, graduierte an der renommierten Yale University in Philosophie und Mathematik. Vertiefte Studien in Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte schlossen sich an. Unzufrieden mit der kompetitiven Struktur der Wirtschafts- und Arbeitswelt, arbeitete und lebte er lange Zeit als Dolmetscher in Taiwan. Persönliche und globale Krisensituationen führten ihn zu einer intensiven Beschäftigung mit der Body-Mind Medizin und -Philosophie. Heute gilt er als einer der wichtigsten Vordenker für eine ökologische, vom Geld unabhängigere Lebensweise. Er präsentiert seine Visionen als gefragter Vortragsredner, veranstaltet Seminare und verfasst Essays und Bücher.

Im Oktober 2019 erschien sein Buch Klima – Eine neue Perspektive. Hier kommt kommt Eisenstein zu dem Schluss, dass es nicht ausreicht, lediglich neue Formen der Energiegewinnung oder des Konsums einzuführen, um eine »nachhaltige Entwicklung« zu ermöglichen. Vielmehr bedarf es eines radikalen Umdenkens im Sinne von »Interbeing«, einem ganzheitlichen Fühlen und Handeln, das die Verbundenheit aller Menschen, aber auch die Verbundenheit von Mensch und Natur ins Zentrum stellt, um einen positiven Wandel zu ermöglichen. Wir alle müssen lernen, Verantwortung für unser Tun zu übernehmen, und zur Heilung unseres Ökosystems beitragen; denn nur so können wir eine Heilung unserer klimatischen und sozialen Systeme erreichen.

Sharing is Caring 🧡
Posted in Kolumne Verwendete Schlagwörter: , ,
6 Kommentare zu “Charles Eisenstein: Ein Aufruf zur Demut
  1. Soheyla sagt:

    Danke für diesen Artikel!
    Es ist fast unfassbar, wie im Moment die Leute mit Andersdenkende umgehen und wie schwer es ist richtige Informationen zu bekommen.

  2. Ruth-Vera Göers sagt:

    Danke für diesen Artikel, der in all dem Wirrwarr, der Rechthaberei und dem immer heftiger werdenden Schlachtengetümmel wieder die klare Linie zu finden hilft !

  3. Anne sagt:

    Vielen Dank für diesen Artikel.
    Eine total spannende Reise – dieser Spagat offen zu bleiben in alle Richtungen, sich selbst nicht zu „verfestigen“, im absichtslosen Zuhören zu verweilen und trotzdem eine Herzensposition zu finden, die einen hält.

  4. Julie sagt:

    Danke newslichter….🍄 für Ch.Eisenstein s Essay mit differenzierter Betrachtung des Verschwörungs-
    Mythos im “ Aufruf zur Demut”, sehr willkommen
    Als besondere Quelle dieses Verständnisses im radikalen Umdenken über das Bewusstsein im “Interbeing”
    kann ich Thich Nhat Hanh Dharma talks via Plum Village.org 🙏 sehr empfehlen

  5. Felix. sagt:

    Das sehe ich auch so Anne „eine Herzensposition“ finden. Darum geht es für Jede*r. Ich geh nicht mehr bei meinen anders-denkenden Schwestern&Brüdern rein. Ich lasse ihnen ihre Meinung. Und bitte lassen sie mir Meine. Am Liebsten würde ich palavern, so lange reden, bis wir uns einig sind. Konsens ist immer besser, als Mehrheit, weil im letzten Fall immer eine unzufriedene Minderheit zurückbleibt. Wichtig in diesem Konsensprozess ist, offen zu bleiben und richtig zu zu hören. Die Bereitschaft zu pflegen seine/ihre/* Meinung auch mal zu ändern.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Dein Kommentar wird nach der Prüfung freigeschaltet. Bitte beachte, Einschätzungen und Meinungen in Ich-Form zu formulieren und die AutorInnen zu wertschätzen. Nicht identifizierbare Namen (Nicknames), Kommentare ohne erkennbaren Bezug auf den Inhalt des Artikels und Links zu nicht eindeutig verifizierbaren Seiten bzw. zur Eigenwerbung werden grundsätzlich nicht freigeschaltet.