Fürstand für das gute Leben

Foto: OYA-Online

Ein offener Brief aus der OYA-Redaktion anstelle einer „Verortung aus gegebenem Anlass“. Liebe Leserin, lieber Leser, ursprünglich wollten wir an dieser Stelle dem Wunsch von einigen von Ihnen und euch nachkommen, politische Orientierung zu geben und Oya in der Fülle alternativer Medien zu verorten. In den vergangenen Monaten haben immer wieder einzelne unserer Autorinnen und Autoren in Medien, die nicht nur vielen von uns sehr zweifelhaft vorkommen, Interviews gegeben oder Artikel geschrieben. Oya wurde dort sogar aktiv beworben. Daraufhin haben wir eine Kündigung erhalten und eine Bildungs­redakteurin verloren; eine langjährige Leserin hat sich erschüttert an uns gewandt und erzählt, dass einige ihrer Freundinnen und Bekannten plötzlich fragwürdige Theorien von sich gäben, seit sie sogenannte Corona-Demos besuchten. Mit vielen Menschen in ihrem Umfeld könne sie kein vernünftiges Gespräch mehr führen. »Warum nehmen derzeit so viele Menschen denkerische Abkürzungen, akzeptieren bereitwillig einfache Antworten auf komplexe Fragen und stürzen sich in blinden Aktionismus?!«, fragte sie und bat uns eindringlich: »Bitte positioniert euch!«

Wir haben bei einer Redaktionssitzung stundenlang diskutiert, eine weitere Telefonkonferenz ausführlich dokumentiert, mit dem Schreiben eines Artikels begonnen und bis kurz vor Drucktermin viele, viele Mails hin und her geschrieben, bei denen wir durchaus nicht immer einer Meinung waren. Wir fühlten uns verpflichtet, aufzuklären, zu orientieren, Stellung zu beziehen. Bei der dazu nötigen Beschäftigung mit dem, was andere gerade tun und denken, hätten wir fast aus dem Blick verloren, auf welche Weise Oya tatsächlich Orientierung bietet, Ausgabe für Ausgabe.

Welcher Wahrheit ist Oya verpflichtet? Wir sind kein investigatives Blatt, das versteckte Zusammenhänge aufdeckt, wir identifizieren keine Hintermänner, die Übles im Schilde führen. Die Wahrheiten, denen wir verpflichtet sind, sind offensichtliche: die Sonne ernährt alles Leben auf unserer Planetin, der Regen lässt die Saat aufgehen, alle Lebewesen sind miteinander verwandt, alle Menschen sind gleichwürdig, unsere Freiheiten sind miteinander verwoben. Offenkundig respektieren viele unserer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen diese Wahrheiten nicht. Doch warum das so ist und wie sie zu verändern wären, dafür gibt es leider keine ganz einfachen und schlichten Erklärungen.

Immer tiefer fragend, wollen wir vielmehr verstehen, warum es denn so vielen Menschen so wichtig zu sein scheint, den einen »wahren« Grund für vielfältige Krisen zu erfahren. Woher kommt die Überzeugung, es könne nur eine Wahrheit geben, woher der Wunsch, dass diese möglichst schlicht und einfach sein solle? Welche ethischen Folgen ergeben sich aus dem Erkennen einer bestimmten »Wahrheit«? Und falls sich daraus keine ergeben: Welchen Sinn hat dann ein Reden darüber, außer jenem der Unterhaltung? Selbstverständlich wollen wir uns durch jede unserer Ausgaben mit Ihnen und euch unterhalten, aber: Wir wollen nicht Unterhaltung, keinen kurzweiligen Zeitvertreib bieten, sondern mit der gebotenen Ernsthaftigkeit auf die Qualität der Zeit aufmerksam machen, in der wir hier und jetzt leben. Und wir wollen herausfinden, welche Handlungen wirklich angebracht sind.

Mit dem Nicht-Wissen leben

In welcher Zeit leben wir hierzulande – in einem der Zentren des derzeitigen wirtschaftlichen und politischen Weltsystems? In einer Zeit des beginnenden Chaos, des Übergangs, der Metamorphose, des Zeitenwechsels, der Transformation, der Umbrüche, der Unsicherheiten, des Nicht-Wissens. In einer Phase, in der wir nicht wissen, in welchem der absehbaren, vermutlich eher düsteren Zukunftsszenarien unsere Kinder einmal leben werden – und fast alle Redaktionsmitglieder leben mit Kindern und fühlen ob dieser Ungewissheit täglich tiefen Schmerz –, ist es nur allzu verständlich, dass viele Menschen auf der Suche nach ­einfachen Antworten sind, nach sicheren Gewissheiten, nach kurzen Erklä­rungen. Und in den Medien, im Internet, in Zeitschriften, in Videoblogs, allerorten kursieren angebliche Wahrheiten, Erklärungen und Gewissheiten. Dass sie kursieren dürfen, verdanken wir unseren Vorfahrinnen und Vorfahren, die von 1789 über 1848, 1919, 1945 bis 1989 für diese Freiheit, die Rede- und Pressefreiheit, mutig gekämpft haben. Manche kamen dabei ums Leben.

Was wir in jeder der vergangenen achtundfünfzig Ausgaben, und insbesondere auch in der hier vorliegenden, versuchten und versuchen, ist, deutlich zu machen: Diese kurzen Erklärungen darüber, wer gut und wer böse sei, wer recht habe und wer irre, wer schuldig und wer unschuldig, wer Täter und wer Opfer sei – die gibt es nicht. Vor allem: Die Frage nach solchen verkürzenden Antworten ist die falsche Frage, ist falsch gestellt, wenn es darum geht, die heute lebenden Kinder und deren Kinder – und eben dies meint »enkeltauglich leben« – würdig zu begleiten, so dass diese in den nächsten 30, 60, 200 Jahren für sich selbst und miteinander ein gutes Leben zu gestalten vermögen.

Die Frage, die stattdessen gestellt werden sollte, heißt: Wie können wir im Hier und Jetzt, an dem Ort, an dem wir uns behausen, gut leben – »gut« freilich nicht im Sinn von »bequem« oder »so angenehm wie möglich« missverstanden, sondern: »umfassend gut«, »gut für alle« – nicht nur für uns und die uns nahen Menschen in diesem Teil der Welt? Es ist herausfordernd, dabei mit dem Unrecht, das wir und unsere Vorfahren und Vorfahrinnen verübt haben, umzugehen. Ist es überhaupt möglich, die Traumatisierungen, die wir und diese erlitten haben, zu heilen? Wie können wir konkret mithelfen, Normen, Rituale, Infrastrukturen und Institutionen zu verändern und neu zu schaffen, so dass diese hier und anderswo weniger Leid bringen, sondern uns vielmehr dabei unterstützen, in diesem umfassenden Sinn gut zu leben?

Es geht uns in Oya darum, miteinander viele verschiedene neue, alte und künftige Wege zu finden, um auf diese Fragen zu antworten, Ihnen und euch von gelingender Praxis zu erzählen und Menschen dazu zu inspirieren, ausgetretene Wege zu verlassen und sich auf Seitenpfaden, Haupt- und Nebenwegen ebenso wie auf neu zu bahnenden Straßen oder Trampelpfaden auf die Suche nach dem guten Leben zu begeben. Wir möchten Sie und euch ermutigen, sich dabei nicht durch die Scharmützel am Wegesrand aufhalten zu lassen, die vermutlich in diesen Zeiten des Chaos, des Wandels, des Nicht-Wissens zunehmen werden.

Fürstandskraft entwickeln

Widerstand ist dort notwendig, wo Menschen durch ein Regime gewaltsam unterdrückt und verfolgt werden und kein anderes Mittel erkennen, um Freiheit und Gerechtigkeit zu erlangen. ­Widerstand ist dort notwendig, wo Vertreter demokratischer Staatsgewalt verbrecherisch handeln. Widerstand ist dort notwendig, wo Maschinen Leben vernichten. Widerstand ist überall dort notwendig, wo unsere Nachbarinnen bespuckt, unsere Kinder bedroht und Menschen als »Andere« beschimpft, ausgegrenzt und behindert werden.
An allen anderen Stellen wollen wir lieber von »Fürstand« sprechen – dem Eintreten für das gute Leben hier und jetzt!

Bleiben Sie mutig,
die Redaktion

Anmerkung von Bettina Sahling und der newslichter Redaktion: Danke, liebe OYA-Redaktion für dieses Statement, das sich in vielerlei Weise mit unseren Beiträgen und Ausrichtungen in den letzten Wochen in dieser komplexen Wandelzeit deckt. Auch wir stehen immer wieder für etwas und nicht gegen etwas ein. Die aktuelle OYA-Ausgabe ist in diesem Sinne wieder einmal ein Fundus an Inspirationen und Informationen diesmal passenderweise zum Thema „Schöne neue Welt“ Hier bestellen und bald auch online nachzulesen.

 

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Ein Kommentar zu “Fürstand für das gute Leben
  1. Felix. sagt:

    Danke Oya. Nur ein Thema möchte ich hervorheben und meine Sichtweise darauf geben. Und zwar: unsere Kinder und ihre Zukunft. Da fehlt mir bei Vielen das Vertrauen in gerade ihren Kindern. Auch ich war ein Kind und meine Eltern haben sich große Gedanken gemacht, als das erste Flugzeug in die Lüfte ging und der ersten Fernseher kam, und, und.. Und, was ist aus mir geworden? Und, was werden meine Kinder erleben? Ich bin glücklich und meine Kinder werden ihren Weg gehen. Insgesamt sehe ich, dass unsere Welt immer besser wird. Ich weiß, dass ich darauf weiter vertrauen kann.

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