Berührende Selbstliebe in stürmischen Zeiten

Foto: Dorothea Ristau

Von Dorothea Ristau. Es war im Oktober letzten Jahres, als ich im Rahmen des nährenden Kuschelns das letzte Mal einen Menschen in meinen Armen halten durfte. Drei Stunden lang lagen wir eng aneinander gekuschelt da. Ich streichelte über den Kopf meines Gegenübers, über die Schulter, den Arm und knetete die Hände. Auch den Bauch und die Beine berührte ich behutsam, immer mit der Absicht, Wärme, Geborgenheit und Nähe zu schenken. Leise, tiefgehend und vor allem sehr nährend waren diese Stunden gewesen.

Seitdem hat sich viel verändert, denn die zweite Corona-Welle schickte mich Berührungskünstlerin als eine der ersten Berufsgruppen ins Tätigkeitsverbot. So konzentriere ich mich jetzt auf die Onlinearbeit und statt weicher Haut streichle ich nun fast täglich die Tastatur meines Laptops.

Ab und zu erreicht mich eine Mail, in der die sehnsüchtige Hoffnung durchklingt, dass wir bald wieder miteinander kuscheln können. Der Berührungshunger sei so groß. Auch bekomme ich Anrufe, ob denn ein nährendes Kuscheln möglich wäre – am liebsten gleich nächste Woche.

In solchen Momenten werde ich immer sehr nachdenklich, denn ich weiß um den starken Hunger nach Berührungen der Menschen, die zu mir kommen. Ich weiß um den Wunsch nach Nähe, Geborgenheit, Halt und nach Verbundenheit und ich spüre die Sehnsucht, die jedes Mal zu mir überschwappt. Und dennoch bleibt mir für den Moment nichts anderes übrig, als „nur“ mit Worten zu berühren.

Was Berührungen bewirken

Unsere Haut ist das Organ, über das wir mit anderen Menschen auf ganz körperliche Weise in Verbindung treten können. Erfährt unsere Haut Berührungen, so nehmen die Rezeptoren diese Reize auf und leiten die Informationen an das Gehirn weiter. Werden die Berührungen vom Gehirn als angenehm bewertet, so wird Oxytocin ausgeschüttet und über die Blutbahn im gesamten Körper verteilt.

Oxytocin wird oft als Kuschel- oder Bindungshormon bezeichnet und seine Wirkungen sind gigantisch: Es erzeugt Gefühle der Verbundenheit, sodass wir uns weniger einsam fühlen. Das Vertrauen in unsere Mitmenschen und die Welt steigt, wir fühlen uns besser verwurzelt und werden ruhiger, gelassener und zufriedener. Außerdem wirken Berührungen angstmindernd, sie verringern Stress und Spannungen und stärken das Immunsystem, sodass wir Krisen mit mehr Lebensmut meistern können.

Es wundert mich also nicht, dass sich gerade in diesen turbulenten Wochen immer wieder Menschen bei mir melden und trotz Tätigkeitsverbot eine nährende Kuschelzeit in Anspruch nehmen wollen. So groß ist die Sehnsucht nach Nähe, Verbundenheit und Halt.

Möglichkeiten der Selbsthilfe entdecken

Doch momentan sind Begegnungen auf körperlicher Ebene leider nicht möglich. Was also tun?

Als Selbsthilfe-Expertin weiß ich, dass wir in den Momenten, in denen niemand anderes für uns da sein kann, so viel mehr für uns selbst bewirken können, als viele Menschen glauben. Wir sind scheinbar ausweglosen Situationen nicht hilflos ausgeliefert, sondern haben immer Handlungsmöglichkeiten – auch in Zeiten von Kontaktbeschränkungen und Abstandsregelungen.

So beginne ich zu überlegen:

Was passiert eigentlich, wenn ich mich selbst berühre? Nicht nur beiläufig, sondern mit aller Bewusstheit und mit viel Zeit. Ob dann die gleichen Reaktionen wie bei Berührungen durch andere ausgelöst werden? Und ist es nicht eigentlich sogar die Grundlage, dass ich mich auf Berührungsebene selbst versorgen und nähren kann, bevor ich mit anderen Menschen in den Austausch gehe? Denn ich kann doch nur aus einer eigenen, inneren Fülle heraus in eine erfüllende Begegnung mit anderen gehen.

Also nutze ich die momentane Zeit und gehe in den Selbstversuch.

Selbstliebe auf berührende Weise erfahren

Dorothea Ristau

Auf einem großen Meditationskissen mache ich es mir gemütlich. Vor dem Fenster fällt in dicken Flocken der wohl vorerst letzte Schnee und im Kamin knistert ein wärmendes Feuer. Die Zeit lädt regelrecht dazu ein, in den Rückzug zu gehen und den Blick nach innen zu richten.

Ich nehme ein paar tiefe Atemzüge und schließe meine Augen. Wie geht es mir eigentlich? Mit meiner Aufmerksamkeit gehe ich nach innen und lausche. Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen, sodass ich ziemlich erschöpft bin. Und gleichzeitig spüre ich in mir eine starke, innere Ruhe sowie eine Grundzufriedenheit.

Meine Wahrnehmung wandert von oben nach unten durch meinen gesamten Körper. Bei den Füßen angekommen spüre ich, wie kalt diese sind. Mit beiden Händen umfasse ich sie, um sie für einen Moment zu halten. Schön fühlt es sich an, diesen Kontakt zu spüren. Langsam beginne ich, zu kneten. Die Daumen versorgen die Oberseiten der Füße, die restlichen Finger kümmern sich die Unterseiten. Die Bewegungen tun meinen Füßen gut und langsam nimmt auch die Wärme in ihnen zu.

Mir gehen Gedanken zur Erdung durch den Kopf. Ob die Menschen, die sonst zu mir kommen, in dieser stürmischen Zeit gut verwurzelt sind, damit ihnen der Sturm nichts anhaben kann? Eine Fußmassage kann in jedem Fall helfen.

Nachdem meine Füße gut umsorgt worden sind, wandere ich mit meinen Händen langsam an meinen Beinen empor – zunächst an den Unterschenkeln, über die Knie und die Oberschenkel entlang, die langsamen Bewegungen sehr genießend. An der Hüfte, am Bauch und an der Brust vorbei geht es zu den Schultern, wo meine Hände für eine Weile liegen bleiben.

Mir kommt der Impuls, mir selbst auf die Schulter zu klopfen für das, was ich in den letzten, anstrengenden Wochen alles gemeistert habe. Irgendwie geben wir uns solche Formen der Anerkennung viel zu selten. Und schon gar nicht im rein körperlichen Sinne. Dabei wirkt das, was wir mit dem Körper erleben, viel intensiver und schreibt sich noch viel stärker in unser Zellgedächtnis ein als freundliche Worte.

Da ich es gerade so genieße, mir selbst ein wenig Anerkennung zu geben, wandern meine Hände weiter zu meinem Gesicht und streichen sanft über die Wangen. Diese Berührung habe ich mir lange nicht mehr gegeben, sodass ich erst jetzt wieder spüre, wie tief sie wirkt.

Von der Handlungsunfähigkeit in die Handlungsfähigkeit

Nachdem ich mich selbst für eine Weile besonders liebevoll umsorgt habe, wandern meine Hände wieder nach unten, kreuzen sich am Hals, gleiten über Schultern und Arme, bis ich mir schließlich im wahrsten Sinne des Wortes Hand in Hand begegne.

Für einen Moment verweile ich in dieser Haltung, bevor ich beginne, mit der linken Hand die rechte zu massieren. Sie fühlt sich etwas verspannt an und genießt es umso mehr, nun durchgeknetet zu werden. Erst die Handinnenseite, dann jeder einzelne Finger und schließlich der Handrücken. Danach wird getauscht und die andere Hand ist an der Reihe.

Nachdem auch die linke Hand ein wenig Lockerung erfahren durfte, reibe ich beide Hände aneinander. Erst langsam und schließlich immer schneller. Während ich an das leise Gefühl der Hilflosigkeit denke, welches bei jeder Anfrage eines Berührungshungrigen in mir mitschwingt, wird es zwischen meinen Händen immer wärmer und wärmer. Ja, ich bin tatsächlich dabei, ein regelrechtes Feuer zu entfachen.

Die Ratlosigkeit ist inzwischen von mir gewichen und ich brenne vor Begeisterung über die Entdeckungen, die ich während der Selbstberührung machen durfte. Dieses Feuer der Begeisterung, das ich in Form von Wärme nun in meinen Händen halte, nehme ich und gebe es direkt in mein Herz hinein, indem ich meine Hände auf meine Brust lege und es einfach fließen lasse.

Wohlig-warm ist mir geworden. Auf körperlicher Ebene durch die sanften Berührungen, die ich mir selbst gegeben habe. Und auf seelischer Ebene durch die wohltuende Erfahrung, die ich gerade machen durfte.

Nun weiß ich: Wenn sich das nächste Mal wieder jemand bei mir meldet und nach einer nährenden Kuschelzeit fragt, so werde ich ihn oder sie einladen, es sich mit sich selbst gemütlich zu machen und sich diese Berührungen selbst zu geben. Ein besseres Geschenk können wir uns in diesen stürmischen Zeiten wohl nicht machen!

Dorothea Ristau

Zur Person: Als Selbsthilfe-Expertin begleitet Dorothea Ristau online wie auch offline Frauen, die auf ihrem Weg aus der Essstörung selbst aktiv werden und dabei nicht alleine sein wollen. Besonders setzt sie sich dafür ein, dass Betroffene auf ihrem Weg viele im wahrsten Sinne des Wortes berührende Momente erleben.

In Dresden arbeitet sie als professionelle Kuschlerin für „Nährendes Kuscheln“ und unterstützt berührungshungrige Menschen dabei, ihren starken Berührungshunger nachhaltig zu stillen.

essmo: Wege aus der Essstörung
https://wege-aus-der-essstoerung.de

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8 Kommentare zu “Berührende Selbstliebe in stürmischen Zeiten
  1. Viola sagt:

    Liebe Dorothea,

    vielen lieben DANK für deine berührenden Worte, und dem, was ich ebenfalls vermisse…BERÜHRUNG…Sie in Worte zu erfahren kann eine Zeit helfen, und das ist GUT so…Bedingt durch die Pandemie, habe ich meinen Liebsten seit über einem Jahr NICHT gesehen, und weiß kaum,wann es möglich sein kann…Er ist durch seine Atemwegserkrankungen besonders gefährdet…Daher gleiche ich vieles über YOGA aus…In den ASANAS selbst, übe ich die Hingabe an mein Wesen, und an die restverbleibende Gemeinschaft oder Welt aus…Natürlich gehören hierbei ATEM-übungen und MEDITATION dazu…Alles ist gut gefühlt und ebenso gut erlernt…Trotzdem fehlt mir das, was mir vielleicht in früheren Zeiten als ALLTÄGLICH daher kam, und übe mich weiterhin in „GLEICHMÜTIGKEIT“
    Liebe Grüsse aus dem z.Zt.sonnig-satten Süden
    Viola

  2. Dorothea Ristau sagt:

    Liebe Viola,
    danke für das Teilen deiner Geschichte. Ja, auch wenn Selbstberührungs- und Yoga-Übungen bei der Selbstregulation helfen können, so kann ich mehr als gut nachvollziehen, dass du die Berührungen durch deinen Liebsten vermisst. Wünsche euch beiden viel Kraft und schicke dir eine Umarmung,
    Dorothea

  3. Gudrun sagt:

    Berührung und Nähe sind ein großes elementares Thema für alle Lebewesen, wir brauchen das, um gesund zu bleiben. Daran sieht man, worauf die Kontaktbeschränkungen abzielen. Sie sind nicht dazu gedacht, unsere Gesundheit zu erhalten…
    Es ist sicherlich gut, wenn ich mir selbst auch nährende Berührungen geben kann, aber das kann nicht die Begegnung und Berührung durch einen anderen Menschen ersetzen.
    Ich lasse mir das jedenfalls nicht verbieten. Ich treffe mich mit Familienangehörigen und FreundInnen und natürlich umarmen wir uns!
    Liebe Grüße, Gudrun

    • Dorothea Ristau sagt:

      Liebe Gudrun,
      ja, das stimmt. Selbstberührungen können helfen, um besser durch die momentane Zeit zu kommen, aber sie ersetzen auf Dauer natürlich nicht die Berührungen durch andere Menschen. Denn wir sind soziale Wesen und wir brauchen den Kontakt zu anderen Menschen.
      Schön, dass du Familienangehörige und FreundInnen hast, denen du nahe sein kannst!
      Liebe Grüße,
      Dorothea

  4. Wunderbar, vielen Dank für diesen Impuls.
    Das animiert mich sofort und ist schön schön beim Lesen. Das mach ich!!!
    Herzliche Grüße, liebe Dorothea Ristau, und mögen wir uns alle bald wieder berühren dürfen so mit Anfassen:-)
    Gundula Eichler

    • Dorothea Ristau sagt:

      Liebe Gundula,

      vielen Dank für die schöne Rückmeldung – das freut mich sehr. Ja, auf dass wir einander bald wieder mehr in echt berühren können.

      Für den Moment eine virtuelle Umarmung,
      Dorothea

  5. Amrita sagt:

    Liebe Dorothea,
    herzlichen Dank, dass du auf die Kraft der Nährenden Selbst-Berührung aufmerksam machst und dazu einlädst, diese herausfordernde Zeit für wunderbare Erfahrungen mit sich selbst zu nutzen.

    Ich beobachte immer wieder, dass beim Hinweis auf das, was wir für uns selbst tun können, sofort gesagt wird, dass das aber auf keinen Fall Berührung mit anderen ersetzen kann. Das stimmt zwar. Dennoch wundert mich die Dringlichkeit, mit der das vorgebracht wird – nicht nur ein Mal!

    In meiner Erfahrung ist die Berührung mit sich selbst die Basis, auf der Berührung mit anderen erst so vielseitig und schön gedeihen kann. Sie ist wichtig und unverzichtbar.

    Was denkst du, warum Selbsterfahrungen so niedrig bewertet werden?
    Haben die Menschen Angst davor, sich selbst zu lieben?

    Mit berührenden Grüßen,
    einer herzliche virtuellen Umarmung
    und einer Glücksportion,
    Amrita

    • Dorothea Ristau sagt:

      Hallo Amrita,

      bitte entschuldige die späte Antwort – habe deine Nachricht erst jetzt entdeckt…

      Natürlich lässt es sich nicht verallgemeinern, warum berührenden Selbsterfahrungen so wenig Wert zugesprochen wird. Schließlich hat jede und jeder eine ganz eigene Prägung, sammelt ganz persönliche Erfahrungen usw.

      Gleichzeitig glaube ich, dass es kollektive Phänomene gibt. Zum einen wurde vielen Kindern vermittelt: „Fass dich nicht an!“, sodass es in gewisser Weise verboten scheint, sich selbst zu berühren. Zum anderen sind wohl viele Menschen in Bezug auf Berührungen mit ihrem Partner/ihrer Partnerin verstrickt, sodass sie die Berührungen des anderen (in abhängiger Form) brauchen, um glücklich zu sein.

      Dabei sehe ich es ähnlich wie du: Sich selbst lieben zu können und sich selbst zu kennen sind wichtige Grundlagen dafür, um mit einem Gegenüber in eine erfüllende Begegnung gehen zu können.

      Ganz liebe Grüße an dich,
      Dorothea

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