Ich bin eine Perspektivenwandlerin

Lesezeit 5 Minuten –

Die wirkliche Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu erforschen, sondern darin, altes mit neuen Augen zu sehen! – Marcel Proust. Heute war ich wieder lange im Wald. Ich setzte mich abseits der Wege mitten hinein, lehnte mich an einen Baumstamm und nahm eine Handvoll Moos. Ich hielt es in meinen Handflächen und direkt vor meiner Nase, um seinen feuchten erdigen Duft in tiefen Zügen in mich aufzunehmen. Riech mal, das beruhigt! Zu viele nervöse und aufgebrachte Stimmen in mir und um mich herum hatten mich aufgewühlt. Ich fühlte mich ein bisschen allein und ein bisschen verloren, machte mir Gedanken über die Menschen, die ich liebe und spürte Kraftlosigkeit. Und ich folgte den Energien in meinem Körper noch ein kleines Stückchen tiefer.

Da kam mir die kleine Vierjährige in den Sinn, als die ich vor 52 Jahren ohne meine Eltern und ohne meine kleine Schwester in einem Kindergarten in Hangelar bei Bonn stand und nicht mehr abgeholt wurde. So ähnlich musste sie sich auch gefühlt haben. Nur schlimmer. Und ich fragte mich einmal mehr, was sie gebraucht hätte. Die Antwort kam sofort: Sie hätte glückliche und zuversichtliche Erwachsene um sich herum gebraucht, die ihr eine undramatische und friedliche Perspektive auf die damaligen Ereignisse hätten geben können. Erwachsene, die die perfekte Orchestrierung des Lebens hätten erkennen können in der Trennung meiner Eltern, im Autounfall meiner Mutter und den Verletzungen meiner kleinen Schwester. Die Erwachsenen um mich herum, meine Großeltern und Tanten, waren voller Liebe für mich. Doch eine andere Perspektive auf das, was geschah, als eine dramatische, katastrophale und sorgenvolle, war niemand in der Lage einzunehmen. Sie suchten Erklärungen und Schuldige. Alle litten. Und ich mitten drin.

Heute im Wald wurde mir bewusst, dass ich ja jetzt da bin, um diese andere Perspektive zu finden. Tatsächlich bin ich die geborene Perspektivenwandlerin. Also erzählte ich meiner Vierjährigen, wie das Leben für meine Mutter damals eine längst fällige ausgiebige Ruhezeit und liebevolle Pflege organisierte, die sie sich niemals freiwillig selbst erlaubt hätte. Ebenso brauchte meine kleine Schwester einmal wirklich einen Raum, in dem es nur um sie ging, in dem sie von morgens bis abends umsorgt und geliebt wurde. Auch mein Vater brauchte dringend Raum für Besinnung und Selbstfürsorge. Und mir wurde eine Zeit geschenkt, in der ich mich für niemanden mehr um mich herum verantwortlich zu fühlen brauchte, eine Zeit, in der ich für eine Weile an absolut gar nichts mehr schuld war. Ich durfte einfach Kind sein und spielen. Und so bekamen wir alle das, was wir damals am meisten für unser Wohlergehen und unsere Entwicklung brauchten. Im Grunde hätten wir vier und einige andere in unserer Familie schon viel früher Hilfe gebraucht. Alle waren schon sehr lange überfordert. Doch all das war niemandem ausreichend bewusst. Zum Glück können wir uns immer auf das Leben verlassen.

Ist diese Perspektive nun ebenso wahr, wie die der Angst, der Sorge, der Schuld, der Hilflosigkeit und der Verzweiflung, die die Erwachsenen vor 52 Jahren um mich herum teilten? Ja. Für mich ist sie heute sogar noch viel wahrer als die andere. Und meine innere Vierjährige entspannte sich sofort ob dieser neuen Sicht auf die Dinge. Wie viele aktuell Vierjährige könnten sich weltweit entspannen, wenn wir Erwachsenen bereit wären, unsere angstvollen Gedanken und negativen Perspektiven zu überprüfen und sie womöglich in eine lebensbejahendere Richtung zu wandeln?

Auf meinem Weg zurück nach Hause sah ich auch deutlich, wie essentiell es sich auf meine Lebendigkeit und mein Glück auswirkt, mich und andere unschuldig zu wissen. Egal, wie schlecht sich jemand um mich herum fühlt, und egal, wie sehr dieser Mensch vielleicht glaubt, dass ich für seinen Zustand verantwortlich sei, ich will meine Unschuld bewahren. Und damit auch die aller anderen. Denn ich will mir und jedem Gegenüber auch im Schmerz frei, ehrlich und mitfühlend begegnen und am liebsten noch etwas Sinnvolles für uns tun können. Schuld – ihre Zuweisung oder Annahme – entsteht aus Überforderung und Trennung von uns selbst. Schuld drückt aus, dass wir entweder mehr oder weniger Verantwortung übernehmen als die für uns selbst. Schuldgefühle sorgen für innerlichen Rückzug, Abwehr bzw. Angriff. Schuld verhindert Begegnung, weil sie uns das Richtige aus den falschen Gründen tun lässt. Wir handeln dann aus Angst. Unser Nervensystem steuert in Richtung Fight-Flight-Freeze. Wir können nicht mehr klar denken und fühlen, geschweige denn zuhören. Dann verlieren alle. Wir verlieren unsere Freiheit, unsere Aufrichtigkeit, unsere Gesundheit, unsere Fähigkeit mitzufühlen, unsere Effektivität in allen Dingen und unsere Nähe.

Schuld ist eine uralte Lüge. Ein echtes Hirngespenst. Und sobald uns das bewusst wird, wandelt sich die Schuld zum Sprungbrett in die Unschuld.

Welche Perspektive wollen wir einnehmen, um uns und unseren Kindern zu dienen im Sinne eines dankbar gelebten Heute und der Erschaffung eines glücklichen Morgen? Wir haben tatsächlich die Wahl. Und wir sind besser ausgerüstet und vorbereitet als alle Generationen jemals vor uns. Jeder, der denken kann, hat die Freiheit dieser Wahl und entscheidet mit über das, was wir jetzt weltweit co-kreieren.

Ich weiß gerade nicht, ob ich weinen oder lachen soll.

Springen wir?

__

Claudia Shkatov
TELLING A NEW STORY

www.claudiashkatov.com
Transformational Coaching for Life & Business

Sharing is caring 🧡
Gastbeitrag
Gastbeitrag

Viele wertvolle Gastautorinnen und -autoren unterstützen und schreiben für die Newslichter. Informationen zu der jeweiligen Person finden sich am Ende des Autorentextes.

11 Kommentare

  1. Dank dir, liebe Claudia, du schenkst mir einen Verbindungsfaden, der mich aus Trauer und Erschöpfung zurück in den Frieden in mir führt. Und in mir entsteht die erweiterte Perspektive: ich kann mich im Weinen auch ans Lachen erinnern. Und in der ganzen Mischung aus BEIDEM in all den Wachstumsschmerzen und Entwicklungsherausforderungen immer wieder weich werden für die Gelegenheiten, die das Leben treu und haargenau stimmig mir anbietet fürs Wachsen und Werden. Könnte sein, ich wachse hinein in den Mut für den Sprung! Denn ja, ich will!!

  2. Liebe Claudia,
    was ein wundervoller Text. Danke Dir von Herzen für den Perspektivwechsel.
    Faszinierend, wie die Worte fließen und eine neue Sicht kreieren.
    Ja, wir springen!!
    Alles Liebe
    Susanne

  3. Wie immer berühren mich deine Worte sehr, liebe Claudia!
    Der Gedanke, dass ich nicht mehr das hilflose und ohnmächtige Kind bin, das aushalten musste, um zu überleben, sondern tatsächlich eine Wahl habe, hat mich gestern mitten in meiner Wut wachgeküsst: Nicht Wut auf die da oben ist die Antwort, sondern Klarheit in und Liebe für meine erwachsenen Entscheidung. Meine Freiheit liegt in meinem so sein, in meiner Integrität, in meiner Authentizität, in dem, wie ich werden darf – kraftvoll, Lebensbejahend und bei mir!
    Ich springe mit euch!
    Herzensgrüße
    Imke

  4. Ich muss tatsächlich weinen, doch es tut auch irgendwie gut die Tränen auf meinen Wangen zu spüren…..
    Und jaaaa….. ich springe mit!!
    🙏

  5. Jaaaa, springen wir.
    Danke, liebe Claudia.
    Deine Texte sind sooo heilsam, wieder und wieder.
    Danke, liebe Bettina, für dein mutiges lichtvolles Sein und all dein Tun für diese wundervolle heilsame lichtvolle liebevolle Seite hier.
    Danke, Danke, Danke für alles und jede/n…

  6. Von Herzen Danke, dass du diese unglaublich wertvolle Erfahrung mit uns teilst, meine kleine Fünfjährige hat gleich ganz laut „das hätte ich auch gebraucht“ gerufen 🙂 da darf ich noch genauer hinschauen… und natürlich springe ich 💪
    liebe Grüße Steffi

  7. Herzlichen Dank für diesen inspirierenden Text!
    Vielleicht geht es in der momentanen Situation nur darum, einen Perspektivenwechsel zu machen, um damit endlich aus dem Hamsterrad unserer Gedanken auszubrechen…gerade, weil wir so mit unseren Grundängsten konfrontiert werden….um dann, endlich…eine neue Geschichte zu erzählen… <3
    Ich erzähle mir seit einiger Zeit eine neue Geschichte über das neugeborene Kind, das ich war, als meine Eltern mich fort gegeben haben für eine gewisse Zeit…und grad werde ich neugierig, meine weiteren Lebensstationen nochmals neu zu betrachten, aus einem anderen Blickwinkel…
    Danke für dieses Geschenk <3
    Von Herzen, Michelle

  8. Ganz herzlichen Dank – dein Text hat mich gerade heute Morgen abgeholt, an dem ich uralte Ängste spürte, die ich lange überwunden glaubte – das Leben bewirkt diese Wunder. Danke!

    Und ich springe mit – mit weit ausgebreiteten Armen!
    Alles Liebe
    Eva Maria

  9. Liebe Claudia,

    vielen lieben DANK für diesen zimmlich “ TIEf “ gehenden Text, der mich fast an mein Erlebnis als 6 jährige erinnerte…
    Es ist mir mehr oder weniger gelungen, alles, was mir damals widerfahren war, zu verzeihen…Hatte lange genug den damals Verantwortlichen die “ SCHULD “ für das Erlebte gegeben…Ein Perspektivenwechsel fand dann statt, als ich erkannte, dass ich dem damaligen Leid etwas Positives abgewinnen konnte…Es sind Werte, die mir als erwachsene Frau, “ WEGWEISEND “ und im neuen Beruf dienlich wurden…
    Die “ HINGABE “ in das was war, und das Beenden von Schuldzuweisungen, ließen die kl. Viola “ HEIL “ werden…
    In DANKBARKEIT an dich –
    in DANKBARKEIT an alle die beteiligt waren,die damals mein kleines Leben nicht anders zu lenken wußten
    Viola

  10. Danke auch Claudia. Corona hat mir sehr Viel gebracht und bringt mir immer noch Viel: neue Freund*innen; ich bin jetzt in einem Chor und in einer Stadtteilgruppe. Alles war gut. Alles ist gut. Alles wird gut! Weil ich es will und in meiner eigenen Hand habe. Und so gut mit der Ewigkeit verbunden bin. Da öffnet sich mein Weg von selber. Manchmal Schrittchen für Schrittchen. Und manchmal muß(te) ich springen. Im Moment bin ich angekommen. Dort, wo ich mich glücklich fühle.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert