Werden wir den Winter überleben?

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Ganz laut in mir hörte ich diesen Satz. „Werden wir den Winter überleben?“ Vor vielen Jahren war ich Teilnehmerin in einem Seminar. Wir haben eine Übung gemacht, in der wir tief in uns nach Sätzen und Prägungen unserer Ahnen horchen sollten. Botschaften, die immer noch in uns wirksam sein könnten. In der Wissenschaft nennt man so etwas Epigenetik. Denn schon längst weiß man, wie sehr die Erlebnisse und Erfahrungen der Ahnen eine Wirkung auf die weiteren Generationen haben, auch wenn man diese fernen Verwandten nie persönlich kennengelernt hat oder ihre Geschichten gar nicht weitererzählt wurden.

In meinem Fall kam nicht nur dieser Satz aus der Tiefe hoch. Ich sah auch die sprechende Frau vor meinem inneren Auge. Schwarz gekleidet, wie es vor ein- oder zweihundert Jahren üblich war – mit einem Gesicht, das viel Leid kennengelernt hatte.

Dieses Erlebnis ließ mich danach nicht in Ruhe und ich fragte meine Großfamilie, ob jemand etwas über besondere Notlagen der Vorfahren wusste, ob etwas über das übliche harte Leben der Generationen vor uns hinaus geschehen war. Oder ob jemand gar etwas von einer besonderen Frau wusste. Aber ohne Ergebnis. Selbst war ich nie bedroht von Hunger, Kälte oder was auch immer mein Leben in einem langen Winter infrage gestellt haben könnte. Vorher kam also dieser Satz?

Es vergingen Jahre, bis ein wunderbarer Zufall die Aufklärung brachte. Eine Historikerin, die auch eine ferne Verwandte ist, hat das Leben auf einer kleinen norwegischen Insel zu ihrem Forschungsobjekt gemacht. Von dieser kleinen Insel stammte meine Urfamilie mütterlicherseits, von der ich fast gar nichts wusste. Diese Historikerin lud uns ein, mit ihr zu dieser Insel zu fahren, damit sie uns vor Ort von ihren Forschungsergebnissen berichten konnte. Und siehe da, dort war sie, die Frau, die mir diesen Satz zugerufen hatte. In alten Dokumenten befand sich ihre Geschichte.

Eine besondere Lebensgeschichte

Gelebt hat sie vor ungefähr 180 Jahren auf dieser rauen Insel vor der norwegischen Küste. Ihr Mann war Seemann, wie so viele dort. Sie hatte bereits sieben Kinder und war schwanger mit dem achten Kind, als der Mann an einer schweren Krankheit starb. Plötzlich war sie allein mit der Verantwortung für acht Kinder. Soziale Unterstützung gab es kaum. Auf der kargen Insel war es außerdem kaum möglich, Landwirtschaft zu betreiben. Wie also überleben?

Denn aufgeben war wohl keine Option für sie. Allein schon für ihre Kinder musste sie weitermachen und irgendwie überleben.

Was hat sie also getan? Sie hat es in einer damals streng religiösen und moralisch kontrollierenden Gesellschaft gewagt, in ihrem eigenen Wohnzimmer eine Kneipe aufzumachen. Dort wurden Tanzveranstaltungen angeboten und Bier ausgeschenkt. So ist es in den Dokumenten von damals schriftlich festgehalten. Kundschaft gab es genug, denn die Segelschiffe, die in der nahegelegenen Stadt ihre Last abgeliefert hatten und jetzt auf neue Last warteten, legten gern für einige Zeit an dieser kleinen Insel an. Die Seeleute waren gierig auf Unterhaltung und Abwechslung. Meine Ahnin hat es in ihrer Not in Kauf genommen, geächtet und ausgegrenzt zu werde. Nun ja, das ist eine ganz andere Geschichte, die ich vielleicht ein andermal mit euch teile. Aber ihre acht Kinder haben überlebt und sie selbst hat ein hohes Alter erreicht.

Ihre Sorge aber hat sich tief in meine Gene hineingegraben. Wie oft taucht sie auch für mich auf, sobald es um Zukunft und Sicherheit geht, sobald irgendetwas in meinem Leben wackelt. Dann versuche ich mir klar zu machen, dass die Verhältnisse heute bei weitem nicht so schlimm sind wie für sie damals.

Wir tragen wohl alle solche oder ähnliche Sätze in uns von früheren Generationen. Und vielleicht hilft es uns allen, wenn wir ihren Weg, ihr Überleben heute besonders würdigen. Sie waren zäh und erfinderisch. Heute sind wir dran. Und dabei leben wir trotz aller Unsicherheit in einer so privilegierten Zeit. Also schauen wir auf das, was uns möglich ist, was wir tun können.

Was unsere Ahnen uns heute wohl sagen würden?

Zum Thema „Hoffnung. Licht. Zuversicht“ möchte ich mich mit euch in einer kostenlosen Online-Veranstaltung am 22. November 2022 (18-19 Uhr) austauschen. Anmeldung an info@vera-bartholomay.com.

Ich bin Vera Bartholomay – Autorin, Seminarleiterin und Therapeutin mit Themen wie persönliche Entwicklung und ganzheitliche Körperarbeit. Ich unterrichte an vielen Orten in Deutschland, Norwegen und in der Schweiz. Meine Bücher sind: „Heilsame Berührung – Therapeutic Touch“, „Projekt Sehnsucht. Ein Mutmachbuch für alle, die von der Selbstständigkeit träumen“ und ganz aktuell „Herzen berühren – Sehnsucht nach tiefen Begegnungen“. www.vera-bartholomay.com

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9 Kommentare zu “Werden wir den Winter überleben?
  1. Steffi sagt:

    Liebe Vera, so eine berührende Geschichte. ❤️ Epigenetik ist sehr spannend und noch so frisch. Aber dahinter verbirgt sich sicher ein großer Schatz und viele Muster und Ängste der jetzigen Generation.

    Meine beiden Großmütter sind im 2. Weltkrieg geboren. Die Großmutter väterlichseits ist 1922 in Tilsit (heute Sovjetk Russland) zur Welt gekommen und meine Großmutter mütterlichseits 1937 hier in Sachsen geboren. Beide zu unterschiedlichen Zeiten und dennoch haben sie ihre Geschichten im 2. Weltkrieg erlebt. Die Mutter meines Vaters ist damals am Ende des 2. Weltkriegs zusammen mit ihrer Cousine und mehreren nicht eigenen Kindern geflüchtet und musste sich oft verstecken. Sie ist dann hier nach Sachsen gekommen und hat meinen Opa kennengelernt. Zu der Zeit war sie verheiratet und ihr Mann war im Arbeitslager verschwunden und als verstorben gemeldet wurden.

  2. Steffi sagt:

    Als sie schwanger war mit ihrem ersten Kind stand ihr totgeglaubter Mann vor der Tür. Das war damals ein Schock für meine Großmutter. Sie hat sich dann für meinen Opa entschieden und hat mit ihm insgesamt fünf Kinder bekommen. Sie ist 2020 mit 98 verstorben. sie hat mir oft von ihrer Kindheit in Ostpreußen erzählt, in Berlin als 16jährigen allein, die Kriegsgeschichten und auch die Zeit als geflüchtete hier in Deutschland damals. Die Geschichte meiner anderen Oma ist ebenfalls sehr intensiv und berührend. Ich habe mir immer wieder mal vorgenommen ihre Geschichte aufzuschreiben und zu erzählen.

    Mich interessieren ebenfalls die Geschichten der Menschen davor. Es gibt sogar von mir Vorfahren aus der Mongolei. So spannend.

    Liebe Grüße Steffi

  3. Miriam sagt:

    Danke Vera, für dein kostbares Teilen! Mir hat sich just dieses Jahr gezeigt, woher die wilde Sorge in meinen Zellen rührt, zu verhungern. Während ich in der Ruhe meines großen Selbst u auch meines Alltagsverstandes weiß u sehe, wie weit u groß die Möglichkeiten sind, meinen Körper zu nähren. In Briefen an ihre Tochter schreibt meine Urgroßmutter Rose im Sommer 1945, was mir nie erzählt worden war: „Hunger haben wir auch immer, aber das wird Euch wohl auch so gehen.“ Da ist meine Mutter gerade vier Jahre alt, ihr Bruder sieben u die kleine Schwester zwei. …

    • Miriam sagt:

      … So erfahre ich von Über-Lebens-Not, die zur „angeknipsten“ DNA meines Zell-Erbes gehören. Rose hat mit ihren drei Kindern u ihrer alten Mutter auf sich gestellt ihren Weg gemacht. Und ihre Tochter, meine Großmutter mit ihren drei Kindern auch. In wildesten Umständen, deren Lösungen sich offenbar im Gehen nach u nach finden ließen. Ihre Zähigkeit u das Glück, das in ihrem Über-Leben sich ausdrückt, ist mir Ermutigung u stärkt mein Vertrauen.

  4. Björn S. sagt:

    Danke für’s Teilen dieser Begebenheit! Unsere familiären Prägungen sind für mich ein elementarer Schlüssel für die eigene innere und äußere Heilung und Gesundheit. Momentan scheint dieser Aspekt mehr ins Feld zu treten, wie auch die ganz wunderbare Netflix-Serie zeigt, die Bettina vor ein paar Tagen geteilt hat. Danke euch!

  5. Danke fürs Teilen – Es ist so wichtig, die Geschichte unserer Ahnen bei der eigenen Heilung zu berücksichtigen, denn die meisten unserer Wunden wuchern seit Generationen in den Zellen der Familienreihe.
    Ich habe, als ich meine Kinderlosigkeit endlich in den Blick nehmen konnte, die Geschichte meiner Großmütter entdeckt: Die eine hat aus Not fünf Kinder „zu Engelmacherin“ gebracht (das war ab 1932), die andere ist im Kindbett nach der Geburt meines Onkels gestorben (das war 1942). Meine Mutter war neun, als ihre Mutter starb – zwei Monate vor Kriegsende verlor sie dann auch ihre Geschwister bei einem Fliegerangriff – Ich habe mir vor allem die Geschichte meiner Mutter angesehen, weil sie mich mit all ihren Ängsten am deutlichsten geprägt hat.


  6. Heute habe ich mit den Traumatisierungen aus meiner Ahnenlinie meinen Frieden gemacht und kann auch die großartigen Geschenke sehen, die von diesen so verletzten und dennoch wunderbaren Menschen (weil auch sie vollen Wunder waren) stammen.

    Das Thema der Kriegsenkel und -urenkel, die wir alle sind, beschäftigt mich aber auch weiterhin und findet sich immer wieder auch in meinen Arbeiten und in dem, was ich weitergebe.

    Ich wünsche uns allen ein baldiges Ende kriegerischer Auseinandersetzungen aller Art!
    Wir sind ein wichtiges Puzzleteil dabei!

    Herzensgrüße
    Imke

  7. Angelie sagt:

    liebe Vera, ich beneide Sie um Ihre couragierte Ahnenfamilie, eine besondere Lebensgeschichte in der geistige und emotionale Verbindungsmöglichkeit entstehen konnte. Es ist ein Geschenk sich so nah zu kommen über fast 200 Jahrhunderte hinweg, klar und griffig.
    Besonders berührt fühle ich mich von der Gewissheit, das ein weiterer Kulturkreis sichtbar werden konnte, der die Epigenetik bereichert hat und den Raum für Bereicherung offen hält.
    Ich selbst suche als Europäerin diese verborgen gebliebene andere Kultur, bewusst, weil innerlich spürend und äusserlich verteidigend, aber geographisch in der anglo-franco-multistate Frage ?
    🍀herzliches Danke für s Teilen 🙏

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