Singend die Geschenke der Dunkelheit entdecken

Karin Jana Beck und Matthias Gerber von Musik Duenda

Karin Jana Beck und Matthias Gerber sind fasziniert von der nährenden und verbindenden Kraft des Singens und von Liedern und Chants aus verschiedenen Kulturen. Über die Jahre ist es ihnen immer wichtiger geworden, das Singen und die Musik in den Dienst zu stellen von allem, was es im Leben zu feiern und zu betrauern gibt.

Sabrina Gundert: Liebe Jana, lieber Matthias – für mich fühlt es sich manchmal an wie ein Wunder, wenn an einem tiefsten Punkt plötzlich etwas Neues entsteht. Etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet habe. Eine Heilung, eine neue Idee, eine unerwartete Möglichkeit. Wie erlebt ihr in eurer Arbeit den Zusammenhang von Wunden und Wundern?

Karin Jana Beck: Das beseelte gemeinsame Singen spannt einen Raum auf, in welchem sich die Wahrnehmung weitet und die Seele mitschwingen kann. Wunden und Tragisches können ihre verborgenen Perlen offenbaren. Das berührt mich immer wieder auf wunder-bare Art. Ich erinnere mich an die vom Singen getragene Klage einer Mutter, die ihr Kind verloren hat. Diese war tief wahrhaftig, lebendig und im Vollkontakt mit dem Leben auch „schön“ … oder an eine Teilnehmerin, deren durch ihre Krankheit zunehmend entstelltes Gesicht bei mir vorerst Schrecken und Beklemmnis auslösten. Doch dann machte ich eine erstaunliche Erfahrung, die ich immer wieder beim Singen bemerke: Im Singen konnte ich ihr auf Seelenebene begegnen und ihren gesunden Seelenkern wahrnehmen.

Matthias Gerber: Ja, das gemeinsame Singen und die Lieder können ein starkes Gefäß bilden und Halt bringen im Umgang mit Krisen und überwältigenden Gefühlen. Auf magische Weise kann das Singen erstarrte und versteckte Gefühle wieder spürbar machen und in Fluss bringen. Und gleichzeitig bietet es Unterstützung, mit diesen einfach zu sein und sie zu wandeln. Immer noch stark präsent ist mir der junge Mann, Sohn einer Singfreundin, der eben im Klettergarten seine Partnerin verloren hatte, die – aus unerklärlichem Grund ungesichert – vor ihm abstürzte und noch am selben Tag starb. Der junge Mann ging, für mich auf eindrückliche Weise, in einen starken Trauerprozess mit all den widersprüchlichen Gedanken und Gefühlen. Seine Freunde und Verwandten waren mit seiner Intensität in gewissem Sinn „hilflos“ überfordert.

In ihrer Not rief uns unsere Singfreundin an. In der Stube des Hauses, wo der junge Mann und seine Freunde und Verwandten waren, richteten Jana und ich ein schönes Zentrum ein und begannen, ein eingängiges Mantra zu singen, und ohne etwas organisieren zu müssen, kamen alle in den Kreis, auch der junge Mann. Das einfache Singritual, das allen auch ermöglichte, sich in ihrer Erinnerung mit der verstorbenen jungen Frau zu verbinden, wurde getragen vom Lied „Ya salam a dunya“.

Der junge Mann konnte mit allem sein – ohne Kommentare von außen. Und als wir nach gut zwei Stunden das Lied und das Ritual beenden wollten, gab er uns klar zu verstehen, dass er sich wünscht, dass wir weitersingen. Das Zentrum und die von anderen auf Zetteln schriftlich geteilten Erinnerungen an die Verstorbene nahm er mit sich nach Hause. Das unterstützte ihn in seinem Trauerprozess. Nach anderthalb Jahren brauchte er dieses Zentrum nicht mehr und gab uns alles zurück.

Jana: Das Ritual, die Lieder und das Zusammensein halfen ihm damals, durch den schwierigen Prozess zu gehen, die Trauer zuzulassen, sich gesehen und aufgehoben zu fühlen mit allem. Er ist von drei Brüdern derjenige, der am wenigsten psychosomatische Spuren aufweist von einem früheren gemeinsamen traumatischen Erlebnis. Auf geheimnisvolle Weise hat ihm vielleicht der tragische Tod seiner Freundin das reinigende Geschenk der Trauer gebracht – Wunder der Wunden?

Ya salam a dunya Afrikanisches Friedenslied: www.stimmvolk.ch/ya-salam-a-dunja

Grosssingen in Bern Foto: Konrad Seidel

Was trägt euch bei euren Singanlässen und Ritualen?

Matthias: Jana und ich fühlen uns beide in starkem Maß einem indigenen Weltbild verbunden, auch als Singanleitende und Ritualbegleitende. Musik, Trommeln, Tanz, Theater und alle weiteren kreativen Mittel von Kunst werden bei ursprünglichen Kulturen fast immer verbunden mit konkreten Ereignissen in der Gemeinschaft oder sind schlichter Ausdruck von Lebensfreude. Von der Geburt bis zum Tod gibt es unzählige wichtige Erfahrungen, die bewusst mit Ritualen und Feiern in der Gemeinschaft begangen werden. Auf jeden Fall sehe ich bei alten Stammeskulturen keine Profikünstler*innen, welche auf dem Dorfplatz eine Bühne aufstellen und dann eine Darbietung machen für ihr Publikum.

Jana: In unserer westlichen Welt ist diese Gemeinschaftskultur weitgehend verlorengegangen. Uns beiden geht es darum, mit dem Singen und den Ritualen einen Raum zu öffnen, der uns Menschen trägt in unseren Freuden und unseren aktuellen Herausforderungen, uns mit unserem Inneren und anderen Menschen verbindet – und dabei Wachstum fördert und neue Erkenntnisse bringt. In unserer stark individualisierten Gesellschaft stehen wir in Krisen- und Notsituationen oft hilflos da, wissen nicht, was wir tun könnten. Wir nehmen ein großes Bedürfnis wahr nach Ritualen und dem bewussten Erleben von Gemeinschaft und Verbundenheit.

Wie können wir selbst aktiv werden, wenn in unserem Umfeld ein Unfall, eine Krise oder ein Notfall geschieht?

Jana: Idealerweise treffen wir uns regelmäßig mit Menschen zum gemeinsamen Singen. Dabei lernen wir die Lieder und deren Qualitäten und Medizinkraft kennen. So können sich alle mit der Zeit ihre persönliche Lieder-Apotheke zusammenstellen. Das ist wie das Säen. Das Ernten der „Medizin-Lieder“ findet dann im Alltag, im Leben statt: Ein Singfreund legt sich vor einer bevorstehenden Operation in die Mitte und lässt sich von der Gruppe mit einem vertrauenspendenden Mantra besingen. So können wir die Lieder als Notfallmedizin in unserem persönlichen Leben wie auch auf gesellschaftlicher Ebene nutzen. Eine Teilnehmerin der FährFrauen-Singgruppe lag schon sehr entkräftet im Sterben. Sie wünschte sich ein Abschiedsritual mit ihren fünf „Loslass-Liedern“. Dazu lud sie ihre Singfreundinnen und 45 ihrer Liebsten ein. In der Mitte liegend ließ sie sich beklingen. Nach diesem zweistündigen Singritual ging sie im Kreis herum und verabschiedete sich von allen einzeln, wortlos. Ein sehr eindrückliches Erlebnis, das ohne Gesang nicht denkbar gewesen wäre.

Matthias: Bei Krisen reagieren wir oft mit Rückzug und Erstarrung und vergessen, die heilsame Kraft der Gemeinschaft und unserer bestehenden Freundes- und Bekanntenkreise zu nutzen. Auch bei gesellschaftlichen Notfällen, einer Naturkatastrophe oder einem Amoklauf kann diese Art von gemeinsamem beseelten Singen hilfreich und traumapräventiv wirken. Es würde mich freuen, wenn in unserer Kultur die gängigen, psychologischen Notfall-Care-Teams ergänzt würden durch gemeinschaftsbildende, beseelte Singkreise. Was, wenn wir in solch einem Krisenmoment zu einem Singen in einem großen Gemeinschaftsraum einladen würden – einen Tag, eine Nacht oder länger. Mitglieder regionaler Singgruppen könnten sich abwechseln und Betroffene mit all ihren Gefühlen das Erfahrene verarbeiten, nicht alleine, sondern in Gemeinschaft.

Jana: Eine Seelen-Singgruppe, die schon in ruhigen Zeiten zusammen singt und mit den Liedern forscht, kann dann in wilderen Zeiten ein heilsames Unterstützungsnetz werden. Man hat herausgefunden, dass Menschen, die zusammen beten, in Gemeinschaft sind und eine spirituelle Anbindung haben, nach Krisen oder Unglücksfällen weniger Traumaspuren haben.

Wie ist das bei euch: Nutzt ihr die Medizin und Kraft der Lieder auch für euch persönlich?

Jana: Ja, zum Beispiel als ich mich zum Abenteuer entschlossen habe, mit einem Frachtschiff in die Philippinen zum Stamm der Kalinga, zu befreundeten Ritualmusiker*innen zu reisen. Im Mittelmeer geriet das Schiff in einen großen Sturm. Existenzielle Angst kroch hoch und ich dachte: „Jetzt sterbe ich also auf dem Meer.“ Da kam mir in den Sinn, was ich in Singkreisen schon erzählt hatte: Es gibt indigene Kulturen, in denen ein Mensch, der sich in großer Not befindet, in die Natur geht und die unsichtbaren Kräfte um ein Kraftlied bittet, welches Angst in Vertrauen wandelt. Also legte ich mich hin. Um mich herum fiel eine Vase klirrend zu Boden, der Sturm toste. Ich lauschte meinem Atem, lauschte der Stille und den einzelnen Tönen, die daraus auftauchten und sich während der nächsten zwei Stunden zu einer Melodie verbanden. Seither hilft mir dieses Notfall-Lied in angstvollen Situationen.

Ich stelle mir das eher schwierig vor, mitten in großer Angst noch ein Lied zu empfangen. Muss ich dafür besonders singen können oder kann das jede*r? 

Jana: Grundsätzlich können das alle. Das Einzige, was es braucht, ist die Offenheit, frei und ohne Vorstellungen und Leistungsdruck zu tönen und Melodien kommen zu lassen. Die Stille ist bei dieser Art des beseelten Singens sehr zentral. Aus der Stille entstehen die Klänge und die Lieder tauchen nach dem Singen wieder in die Stille ein, in welcher die Wirkung des Liedes – also dessen Medizinkraft – besonders gut wahrnehmbar ist. Ein indischer Freund erklärte uns: Das Singen ist wie das Kochen – die Stille nach dem Lied ist wie das Essen.

Was ist für euch das größte Geschenk in eurer Arbeit?

Matthias: Singen, ob in einer Gruppe oder alleine, ist für mich die beste Meditation. Beim Singen wird mein Gedankenfluss ruhig, mein Körper vitalisiert, Herz und Brust weiter – und oft entstehen innere Bilder, die mir Kraft geben. Das erlebe ich als zutiefst nährend und heilsam. Ich empfinde eine große Dankbarkeit, dass das Singen seit über 25 Jahren zu meinem VollBeruf geworden ist. In all den Jahren des „Singend-unterwegs-Seins“ haben wir auf vielfältige Weise erlebt, wie das gemeinsame Singen zu Verbundenheit mit anderen, zu Menschlichkeit und persönlichem Wachstum beiträgt und die geistige und körperliche Gesundheit stärkt.

Jana: Mich berührt es immer wieder, wie schlicht, einfach, natürlich und gleichzeitig sehr wirkungsvoll und heilsam beseeltes, gemeinsames Singen ist. Im Singen bekommen wir Zugang zu einer anderen Ebene, begegnen uns von Herz zu Herz und von Seele zu Seele. Dies ermöglicht ein neues Miteinander, eine neue Kultur.

Karin Jana Beck und Matthias Gerber alias Musik Duenda sind seit bald 30 Jahren mit Liedern und Musik aus aller Welt unterwegs, beleben damit beseelte Feste, Feiern und Rituale und sind Mitinitiator*innen des soziokulturellen Schweizer Sing- und Friedensprojekts „StimmVolk.ch – singend Brücken bauen“. Als Singanleitende erfahren sie immer wieder, wie Lieder und das gemeinsame Singen ein starkes Gefäß bilden zum Feiern des Lebens in allen Farben und Schattierungen. Es geht ihnen um eine lebendige, gemeinschaftsorientierte Alltagskultur. www.tschatscho.ch und www.stimmvolk.ch

Umfangreiche Lieder-Apotheke:
Wochenlieder zum Mitsingen: Auf YouTube unter „Musik Duenda“ haben Karin Jana Beck und Matthias Gerber fast 50 Wochenlieder zum Mitsingen zur Verfügung gestellt.

Große Sammlung von Liedern aus aller Welt, mit Aufnahmen von Einzelstimmen, Textblättern und Akkorden: www.stimmvolk.ch/unsere-lieder

Aus TAU – magazin für barfußpolitik, Ausgabe 21, 11/2022, Thema Wunder*n, Autorin Sabrina Gundert: https://tau-magazin.net

Sabrina Gundert begleitet Menschen ihren eigenen Weg zu finden und zu gehen. Sie ist als Autorin und Coach Wegbegleiterin an den Schwellen des Lebens. www.sabrinagundert.ch

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10 Kommentare zu “Singend die Geschenke der Dunkelheit entdecken
  1. Emily sagt:

    Vielen Dank für dieses inspirierende Interview! Ich lebe mit vielen Tieren zusammen und begleite sterbende und gerade gestorbene Tiere mit einem intuitiv ausgewählten Mantra, und erlebe dabei magisches, als auch für mich tröstendes. Der Text motiviert mich, auch im Alltag wieder mehr zu singen, danke dafür!

  2. Miriam sagt:

    Grandiose Menschen, wunderbares newslicht, so schön!! Danke

  3. Franziska kleiner sagt:

    danke auch von mir für die schönen Lieder zum Mitsingen und Staunen. Immer war Musik das Gröste für mich und nun bin motiviert Singanleitung zu „lernen“

  4. Wim Lauwers sagt:

    Singen und andere gemeinsame Aktivitäten lassen uns eins werden. Das „Du“ und „Ich“ verschwindet und ein „WIR“ entsteht.

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