Der ewige Zauber des Anfangs: Reflexionen zum Neuen Jahr

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Wie schon in den vergangenen Jahren erlebte ich den Jahreswechsel in einem stillen Retreat. Es ist für mich immer wieder eine besondere Erfahrung, den Neuanfang eines Jahres mit der erneuernden Kraft der Meditation zu begehen, zu feiern. Die neue Geburt eines Jahres ist eine besondere Zeit, wie sie uns ins Bewusstsein ruft, dass wir nicht nur Geborene sind, wie ich es kürzlich in einem Text erforscht habe, sondern auch Neubeginnende sein können. Wie auch immer unsere Vergangenheit war und ist, immer steht uns mit dem Horizont der Zukunft, der sich vor uns öffnet, das noch Mögliche zur Verfügung, zur Gestaltung. Zum Werden.

Die Meditation selbst führt mich zurück zu dieser Kraft des Neuanfangs, die jedem Augenblick innewohnt. Die stille Präsenz, in der Gedanken, Gefühle, Erinnerungen an das Gewesene, Vorstellungen vom Kommenden vorbeiziehen wie Wolken, legt immer mehr den leuchtenden Himmel des Gewahrseins frei. Ein offener Raum der Anwesenheit, in dem meine Identitäten in den Hintergrund schwinden und diese freie Anwesenheit spürbar wird, die das Bewusstsein jenseits aller Formen, Zuschreibungen, Konzepte und Identifikationen ist. Die Leere, wie es im Buddhismus heißt. Diese Leere ist aber kein Vakuum, kein toter Raum, sondern ein brodelnd vibrierender Zustand der wachen Anwesenheit jenseits der Zeit inmitten der Zeit.

Meditation lässt mich die offene Weite jenseits der Identität und Identifizierung erspüren. Den freien, unverstellten Raum, aus dem in jedem Moment ein Neuanfang möglich ist. Keine Fortschreibung der Geschichte, sondern die Transformation in eine neue Form. Dabei ist die Leere, das Nichts die Anwesenheit des Potenzials, der Möglichkeit, bevor sie Ausdruck findet.

Es ist das Ungeborene, das Ungewordene, das unserem Gewordensein im Innersten innewohnt. Im offenen Gewahrsein nehme ich mich nicht mehr begrenzt durch meinen Körper wahr, überschreite die Grenzen meiner Identität, weite mich in das ungeteilte, unteilbare Ganze des Seins. Das Ganze, das ich bin, das ich mit allem bin.

In der Weite des Bewusstseins vergegenwärtigen sich die Qualitäten des Bewusstseins: Gegenwärtigkeit, Klarheit, Offenheit, Transparenz, Weite, Liebe. Sein, Bewusstsein, Glückseligkeit, wie es in der indischen Spiritualität als Sat, Chit, Ananda genannt wird, oder im Buddhismus als Weisheit und Mitgefühl. Weisheit als innere Erkenntnis der Nichtgetrenntheit allen Lebens, Mitgefühl als die liebevolle Zuwendung zu allem, die aus dieser inneren Erkenntnis der Einheit erwächst.

Wenn ich alles loslasse, finde ich die spürende Hinwendung zu allem in Liebe. Diese Liebe steigt aus dem Herzen des Seins auf, sie ist kein menschliches Konstrukt oder Gefühl. Sie erweist sich als Natur, als Urgrund, als Sinn des Seins. Liebe ist das spürende Erwachen zur Einheit allen Lebens, die unser wahrer Name ist, wie es der Zen-Meister und Dichter Thich Nhat Hanh in diese Zeilen fasst:

Bitte, nenne mich bei meinen wahren Namen!
Betrachte es ganz tief:
Jede Sekunde komme ich an,
sei es als Knospe in einem Frühlingszweig
oder als winziger Vogel mit noch zarten Flügeln,
der im neuen Nest erst singen lernt.
Ich komme an als Raupe im Herzen der Blume
oder als Juwel, verborgen im Stein.

Ich komme stets gerade erst an,
um zu lachen und zu weinen,
mich zu fürchten und zu hoffen.
Der Schlag meines Herzens ist Geburt und Tod
von allem, was lebt.

 Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Jeder Augenblick entsteht wach und frisch aus und in der Existenz und lässt mich spüren, dass ich im Innersten frei bin von allem Gewordenen. Was ich bin, was ich geworden bin, was ich werden will … im Innersten der wachen Anwesenheit ist eine Freiheit, die dem allen vorrausgeht und den Raum eröffnet, offen da zu sein. In dieser Freiheit von allem, was war, liegt immer auch die Möglichkeit des Neuanfangs. Diese Fähigkeit, neu zu beginnen, ist die schöpferische Kraft der Erneuerung im Herzen unseres Menschseins, von der Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“ schreibt:

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Jeder Anfang beschützt uns davor, unsere Lebendigkeit zu vergessen, unser schöpferisches Potenzial nicht mehr zu spüren, uns im Gewohnten zu verhärten. Ein Leben, in dem das Anfängliche atmet, hat einen morgendlichen Duft. Der Anfang hilft uns zu leben, weil sich darin die Dynamik, die fließende Wucht des Lebendigen selbst in unserem Sein verwirklicht. Darin spüren wir die kreative Kraft des Lebens in unserem Werden. So wie wir ganz konkret Entscheidungen treffen, die uns zu neuen Ufern führen. Was genau diese Ufer sein werden, wissen wir nicht. Jeder Anfang ist auch ein Hingeben in das Ungewisse, das Noch-nicht-Gewusste und gibt auch genau dadurch dem Leben seinen Zauber zurück. Verzaubert es.

Unser Leben kehrt ins Staunen zurück. Im Zen wird die Haltung, die sich dieser inneren Offenheit bewusst ist, als Anfänger-Geist bezeichnet. Es ist ein Geist, der nicht abstumpft und meint, etwas zu kennen. Auch das, was wir schon viele Male gesehen haben, einen Baum, eine Blume, einen geliebten Menschen, kann ich neu sehen, kann diesen Augenblick zu einem Neuanfang machen, weil ich neu gegenwärtig bin. Weil ich diesen Moment in aller Frische des Seins als diesen unverwechselbaren, nie wiederkehrenden, einzigartigen Seinsmoment erlebe, der er ist. Dann zieht die staunende Freude an allem, was ist, in die Grundstimmung meines Hierseins ein. Dann finde ich auch in den Wendungen meines Lebens den Mut, immer wieder neu zu beginnen.

Denn jeder Neuanfang ist auch ein Wagnis, ist ein Schritt auf das Leben zu, in das Leben hinein. Ich mache mich verletzlich, gebe dem Leben die Kraft, mich zu verändern. Was immer ich neu beginne, sei es eine neue Arbeit, der Umzug an einen neuen Ort, eine neue Beziehung, eine neue Übungspraxis oder Kunstform, ein neues Bild, ein neues Gedicht, einen neuen Text – immer begebe ich mich einen Schritt aus dem bisherigen Gleichgewicht hinaus in das unbegangene Land in mir selbst. Und erlaube dem Leben, mich dort zu finden, mich zu berühren, von innen aufzubrechen, zu verändern, vielleicht auch zu ent-täuschen. Das Verlassen der Sicherheit, das Aufgeben der Kontrolle ist die Voraussetzung dafür, dass sich das Leben in dieser Frische immer wieder zeigen kann inmitten meines Daseins.

Deshalb erfordert es auch Mut, sich in diese Ungewissheit des Neuen vorzuwagen. Ein Mut, wie ihm Goethe auch eine Zauberkraft zusprach: „Was immer du tun kannst oder träumst, es zu können, fang damit an! Mut hat Genie, Kraft und Zauber in sich.“  Denn in diesem Anfangsmut findet die Lebenskraft in uns zu sich, deshalb sind wir, wenn wir neu beginnen auch behütet vom Leben, weil wir uns damit verbinden, es in unserem Sein verwirklichen, Frucht tragen lassen.

Tiefbesiegt von immer Größerem

 In dem Buch „How to Begin“, das ich vor Kurzem übersetzt habe, erklärt der Managementberater Michael Bungay Starnier in einfachen Schritten, wie wir einen Neuanfang in die Tat umsetzen können. Es beginnt damit, dass wir ein „Wertvolles Ziel“ für uns finden, dass Spannend, Herausfordernd und Wichtig ist. Spannend, so dass es uns mit Begeisterung erfüllt, mit einer Vorfreude, ein noch nicht entfaltetes Potenzial in uns anspricht. Herausfordernd, weil es etwas ist, was einen oder mehrere Schritte über das hinausgeht, was wir bisher im Leben gewagt oder getan haben. Und Wichtig bedeutet, dass es für mich selbst und für die Welt einen Sinn trägt, dass es ein Ausdruck meiner tiefsten Werte ist. Das Buch gibt dann einen einfachen Stufenplan, wie man ein Wertvolles Ziel so formulieren kann, dass es einen selbst überzeugt, um dann zur Entscheidung zu kommen, es auch wirklich umzusetzen.

Bei all dieser Klarheit vernünftiger Schritte, weiß auch Michael Bungay Starnier, dass wir uns mit dem Neubeginnen in die Geheimnissphäre unseres Seins begeben und zitiert einige Zeilen aus dem Gedicht „Der Schauende“ von Rilke:

Die Siege laden ihn nicht ein.
Sein Wachstum ist: der Tiefbesiegte
von immer Größerem zu sein.

Wenn wir neu beginnen, laden wir im Grunde die Größe des Lebens ein, uns tief zu besiegen. Und gerade darin wachsen wir in die Präsenz, in die Gnade dieses Größeren hinein, werden heimgeholt in die Woge des Werdens, die schöpferische Entfaltung des Lebens, von der wir immer ein Teil sind.

Rilkes Gedicht bezieht sich auf die biblische Geschichte von Jakob, der mit dem Engel ringt. Bungay Starnier schreibt: „Man gewinnt nie, wenn man mit dem Engel ringt; darum geht es auch nicht. Aber es geht um alles, wenn man eine Arbeit tut, die so wichtig ist, dass der Engel Ihnen begegnet und Ihnen gegenübertritt. … Wenn wir uns Wertvolle Ziele setzen, ringen wir mit dem Engel und das verändert uns. Wir befreien unsere wahre Größe, indem wir an den schwierigen Dingen arbeiten.“ Rilke schreibt in dem Gedicht:

Wen dieser Engel überwand,
welcher so oft auf Kampf verzichtet,
der geht gerecht und aufgerichtet
und groß aus jener harten Hand,
die sich, wie formend, an ihn schmiegte.

Wenn ich mit etwas beginne, dass so herausfordernd für mich ist, so verbunden mit den Wundern und Wunden der Welt, dann begegnet mir der Engel. Er ruft mich heraus aus meiner bisherigen Form und hinein in eine neue Größe meines Seins, die ich erst erahne, die der Engel aber schon weiß. Und indem ich immer wieder diese Begegnung mit dem Engel des Lebens suche und wage, wohl wissend, dass ich dieser Anwesenheit nicht gewachsen bin, wachse ich doch immer mehr in die Lebensform, als die ich gemeint bin. Darin sind auch die Widerstände, das Scheitern, die Fehler, die Enttäuschungen nur die Berührung der Hand des Lebens, die mich formt, mir meine Grenzen spüren lässt, mich doch aber hält und trägt. … um tiefbesiegt von immer Größerem zu sein.

Der Weg hindurch

 Das Neujahrsretreat wurde auch begleitet von Texten, die wir gemeinsam lasen. Einer dieser Texte stammt von Simone Weil und hat mich und die anderen Teilnehmenden tief berührt. Darin schreibt sie von der Gnade Gottes. „Die Gnade … kann nur dort eintreten, wo es eine Leere gibt, die sie aufnehmen kann, und es ist die Gnade selbst, die diese Leere schafft. … Wir können keinen Schritt auf den Himmel zu machen. Gott durchquert das Universum und kommt zu uns. … Die Welt ist die verschlossene Tür. Sie ist ein Hindernis. Und gleichzeitig ist sie der Weg hindurch.“

Die Gnade, so könnte man sagen, ist auch das Aufscheinen unseres wahren Seins, sie wird uns neu bewusst und offenbar, wenn wir einen gnadenhaften Moment erfahren. Wir erkennen die wahre Tiefe unseres Seins und die wahre Tiefe der Welt. Damit die Gnade in uns und zwischen uns aufscheinen kann, muss eine Leere in uns sein, ein Lassen von allem, was war und womit wir uns identifizieren. Dann ist es nicht unser Schritt, den wir gehen, sondern das Göttliche kommt auf uns zu und findet uns als Neuanfang. Die Gnade zeigt uns die offene Tür durch die Welt. Die gewordene Welt scheint fest, stabil, unverrückbar, manchmal unveränderbar, gefangen in ausweglosen Krisen von Krieg, Entzweiung und Zerstörung des Lebens. Aber die Welt ist auch der Ort, wo immer in jedem Augenblick ein Neuanfang möglich ist. Und in jedem Neubeginn beginnt auch die Welt neu, auf ihr mögliches Sein hinzublühen. Deshalb ist jeder Neuanfang, den wir wagen, ein Vers im großen Gedicht des Lebens, mit dem wir mitwirken an dessen werdender Gestalt. Der Neuanfang ist der Weg durch die Welt hindurch zu ihrer wahren Bestimmung: eine Werdende zu sein. Und damit auch zu unserer Bestimmung: Werdende zu sein. So wie es Hermann Hesse in seinem Gedicht zum Ausdruck bringt:

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.

Deshalb möchte ich mir nicht nur zum Beginn dieses Jahres dieser Kraft bewusst sein. Immer wenn ich etwas neu beginne, das mit dem Wesentlichen der Welt verbunden ist, atmet darin die erneuernde Kraft des Lebens selbst, der Weltgeist, und findet Atemraum, Seinsraum, um sich selbst zu entdecken, neue Möglichkeiten zu schöpfen, neue Wege zu erforschen. Dass wir darin teilhaben können, ist das Glück und die Gnade unseres Lebens.

Gemeinsam neu beginnen

 Unser Retreat fand an einem Ort statt, der selbst durch einen radikalen Neuanfang entstanden ist. In den frühen 1920er Jahren hatten sich Frauen aufgemacht, in der Nähe von Fulda die Siedlung Loheland zu gründen. Hier sollten junge Frauen aus bürgerlichem Milieu den Weg zum Wesentlichen in sich finden. Es war vor allem eine Bildungsstätte für Gymnastik, die später als Loheland-Gymnastik bekannt wurde. Aber es wurden auch andere Kunsthandwerke wie Weberei und Schreinerei ausgeübt, die Frauen fungierten als Architektinnen eigener Häuser, es lebten dort bekannte expressionistische Tänzerinnen der Zeit, Musikerinnen und andere Kunstschaffende. Ihr Motto war „Leben ist Bewegung – Bewegung lebendige Form“ und verbanden in ihrem Konzept Lernen, Arbeiten und Leben, integrierten Gymnastik, Garten- und Ackerbau, Handwerk und Kunst in ihrem Konzept.

In einer Audioführung, der wir nach dem Retreat gemeinsam folgten, wurde sehr eindrücklich nachspürbar, wie diese Frauen hier einen leeren Acker vorfanden, auf dem sie neu begannen. Die ersten „Häuser“ waren alte Eisenbahnwagons aus dem Ersten Weltkrieg, die nun nicht mehr gebraucht wurden. Nach und nach gestalteten sie den Ort zu einem Gemeinschaftslabor um, in dem ein neues Frausein und Menschsein erprobt werden sollte. Voraussetzung dafür war, wie eine der beiden Gründerinnen formulierte, dass die Frauen alles, was sie in ihrer bürgerlichen Erziehung gelernt hatten, verlernen sollten, um noch einmal neu anzufangen. Neu entdecken zu können, was es heißt, wesentlich, schöpferisch, bewusst Mensch zu sein. Und dem im Alltag ganz erdnah Ausdruck zu geben. Dieses Experiment zog damals viele Frauen an und wirkte durch die Impulse, die von dort weitergetragen wurden, als kultureller Anstoß in die Welt.

Man spürt, dass die Frauen deshalb zu diesem Neuanfang in einer Zeit voller Widerstände fähig waren, weil sie eine gemeinsame Vision teilten. Für sie war es nicht nur ein individueller Neuanfang, sondern gemeinsam schlossen sie sich um eine neue Vision des Menschseins herum zusammen und gaben ihr Ausdruck. Als die Gemeinschaft in die Jahre kam, einer der Gründerinnen die Gemeinschaft verließ und die Zeiten sich wandelten, verlor der Ort diese visionäre Strahlkraft und ist heute eine Tagungsstätte und Wohnsiedlung mit anthroposophischen Einrichtungen wie einer Waldorfschule und einem Kindergarten. Aber er zeugt noch heute spürbar von der Kraft des gemeinsamen Neuanfangs auf einem leeren Acker in einer krisenhaften Zeit.

Dem Leben dienen

Auch wir leben in einer krisenhaften Zeit, in der ein kultureller Neuanfang nötig scheint, weil unsere bisherigen Formen des Umgangs mit uns selbst, miteinander und mit dem Lebendigen an ihre Grenze kommen, zu unserer Selbstzerstörung führen können. In der neuen Ausgabe des evolve Magazins, die Ende Januar erscheint, beleuchten wir eine Qualität dieser neu möglichen Kultur, die sich in vielen Ideen, Projekten, Netzwerken und Gemeinschaften schon zu zeigen beginnt. Man könnte sie unter dem Begriff Regenerative Kulturen zusammenführen. Darin werden alle unsere Prozesse des Gestaltens der Welt so verwandelt, dass sie dem Leben dienen und nicht gegen das Leben stehen. Das Leben der natürlichen Mitwelt, das Leben in uns, das Leben in unserem demokratischen Gemeinwesen. Regeneration bedeutet so viel wie Erneuerung, erneute Belebung, erneute Bildung (von abgestorbenem Gewebe). Regenerative Kulturen wären also solche, denen das Neubeginnen innewohnt. Die so beschaffen sind, dass sie sich selbst aus sich heraus immer wieder schöpferisch wandeln, damit das Leben weiter fließen kann und neue Formen findet. Dazu gehört auch das Sterben, das Loslassen und Verwandeln des Alten als Teil des Lebensprozesses.

Für diese Ausgabe habe ich einige junge Aktivisten interviewt, die an solchen Projekten arbeiten und in ihnen vibriert die Energie des gemeinsamen Neuanfangs. Damit stehen sie auch auf den Schultern vieler Neuanfänge, die nun in der Vergangenheit liegen, aber immer noch weiterwirken. Wie der Aufbruch der Loheländerinnen, die auf ihre Weise eine regenerative Kultur erprobten, über den ökologischen, spirituellen und sozialen Aufbruch und die vielen Gemeinschaftsimpulse der letzten Jahrzehnte. Aus all dem können wir heute schöpfen, um eine Kultur zu bilden, die dem Leben dient. Wir können ebenso schöpfen aus der Weisheit unserer globalen Kultur.

In unserem Retreat haben wir auch etwas Besonderes gemacht, wir haben das Neujahr im Verlauf der ganzen Welt begrüßt. Beginnend am 31. Dezember um 12 Uhr bis zum 1. Januar um 12 Uhr gingen wir mit dem neuen Jahr um die Erde, wie es in den Zeitzonen ankommt. Und zu den Regionen der Erde lasen wir Texte, sahen Videos, hörten Musik, die den Geist, die Würde einer Kultur zum Ausdruck bringt. Ich spürte darin diesen unendlichen Schatz der Weisheit, der in den Kulturen der Welt gewachsen ist, und immer deutet sie auf eine Grundwahrheit unseres Seins. Egal ob ein indigenes Ritual der Aborigines, sakrale indische Musik, persischer Derwisch-Tanz, afrikanische Gebete, Zeilen eines argentinischen Dichters, Zeremonien der südamerikanischen Indigenen oder gar ein Poetry Slam in Kanada – immer spricht diese Weisheit von unserem Eingebundensein in ein größeres Leben, für das wir Verantwortung tragen. Darin leuchtet der Funken einer regenerativen Kultur, die immer wieder neu die schöpferischen lebensförderlichen Kräfte in uns weckt und unsere Gesellschaft so transformiert, dass wir im Verbundensein mit dem Leben wirken. In der Erkenntnis, dass wir Leben sind, bewusstes Leben sind. Denn das ist unser wahrer Name:

Der Schlag meines Herzens ist Geburt und Tod
von allem, was lebt.

Der kulturelle Neuanfang, der sich heute an vielen Stellen im Keim schon zeigt, gibt mir Hoffnung in einer Zeit, in der so viel Altes zusammenzubrechen scheint. Darin finden meine eigenen Neuanfänge, in die ich in diesem Jahr gehen möchte, ihren Resonanzraum, ihren Sinn.

An einem Abend nach dem Retreat ging ich nachts in den Wald, die Bäume rauschten von heftigem Wind. Durch unsere 24-Stunden-Reise um die Welt, spürte ich die Verbindung zum ganzen Planeten als Wesen, dieser blaue Juwel im leeren Raum, auf dem wir wohnen, aus dem wir bestehen, der wir sind. In der Verbundenheit mit den Bäumen um mich nahm ich das ganze Lebendige der Erde wahr, spürte, dass es nur das Eine Lebendige gibt, das auch in mir und in uns allen wirkt und strömt und vibriert. Und aus der lauschenden Stille heraus, die sich in mir durch die vielen Stunden der Mediation geweitet hatte, bat ich den Wald um eine Botschaft für das neue Jahr. Die Antwort war: Diene dem Leben.

Poetisch ausgedrückt fand ich diesen Ruf in dem Gedicht „Verloren“ von David Wagoner, das eine der Retreatteilnehmerinnen uns vorlas. Es spricht vom Innehalten, vom Lauschen, vom Hören in der Stille, aus dem wir in jedem Moment das Leben wacher erfahren können und neu damit beginnen können, uns finden zu lassen:

Steh still. Die Bäume vor dir und die Büsche neben dir
sind nicht verloren. Wo immer du bist, es ist hier,
Und du musst es wie einen mächtigen Fremden behandeln,
Musst um Erlaubnis bitten, um zu erkennen und erkannt zu werden.
Der Wald atmet. Hör zu. Er antwortet,
Ich habe diesen Ort um dich herum geschaffen.
Wenn du ihn verlässt, kannst du wiederkommen und sagen: Hier.
Für den Raben ist kein Baum wie der andere.
Für den Zaunkönig ist kein Zweig wie der andere.
Wenn du nicht verstehst, was ein Baum oder ein Strauch tut,
bist du sicher verloren. Bleib stehen. Der Wald weiß,
wo du bist. Du musst dich von ihm finden lassen.

Mike Kauschke

Mike Kauschke ist Autor, Redaktionsleiter des Magazins evolve, Dialogbegleiter und freier Übersetzer mit Schwerpunkt auf Büchern zum Thema Achtsamkeit, integralem Denken und Organisationsentwicklung. Er praktizierte Zen-Buddhismus bei Lehrern in den USA und Europa, erforschte eine integrale, transkonfessionelle Spiritualität und war als Krankenpfleger in der Palliativpflege und Hospizarbeit tätig. Sein Buch „Auf der Suche nach der verlorenen Welt – Eine Reise zur poetischen Dimension unseres Lebens“ ist 2022 erschienen. www.mike-kauschke.de  www.poetische-lebenskunst.de  www.evolve-magazin.de

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