Nichts soll verlorengehen!

Lesezeit 8 Minuten –

– Alles ist in Bewegung! – Raum für Neues öffnen! Von Gisela Minz. In meiner Nachbarschaft befindet sich ein kleines Einkaufszentrum. Immer wieder gibt es dort Veränderungen. Von 1966 bis 2020 gab es hier eine lebendige evangelische Kirchengemeinde, deren Zentrum die Heilig-Geist-Kirche war. Wie bereits in zahlreichen Kirchengemeinden, musste sich auch das Presbyterium der Gemeinde den Fragen des allgemeinen Wandels stellen und einschneidende Entscheidungen treffen. Die evangelische Kirchengemeinde Urdenbach besteht jetzt aus einem großen Pfarrbezirk. Die Glocken hörten auf zu läuten. Das alles habe ich nur beiläufig erfahren, da ich nicht direkt mit dem Geschehen verbunden war. Durch die Abbrucharbeiten wurde ich plötzlich Teil des Geschehens. Ich beobachte jetzt anders, sehe die Menschen in meiner Umgebung, höre zu und komme manchmal spontan in ein freundliches Gespräch.

So auch an diesem Nachmittag im Juni 2024. Da erlebe ich etwas, was mich bewegt und sich wie ein Dominoeffekt fortsetzt:

An der Brottheke in der Bäckerei kaufe ich Brötchen. Ich schaue suchend über die ausgestellten Backwaren, um noch ein Teilchen für den Nachmittagskaffee mitzunehmen. Dabei sehe ich unwillkürlich auf einen Tisch der Café-Besucher vor dem Laden. Einer der Stammgäste hatte etwas ausgebreitet, was alle Blicke auf sich zog. Sogar die Friseurin hatte ihre Arbeit unterbrochen. Zu meiner großen Verwunderung lagen dort auf dem Tisch bunte Glasstücke. Lachend, staunend und erzählend nahmen sich die Umstehenden von diesen Glassteinen, die noch mit feinen Betonresten behaftet waren. Es waren blaue Steine, kleine rechteckige Glasfragmente, die in verschieden blaugrünen Farbnuancen in der Sonne leuchteten. Im Vorbeigehen wurde auch ich aufgefordert, mir welche zu nehmen. Nebenbei erfuhr ich, dass es morgen in der blauen Kiste neben der Baubude noch mehr Steinchen geben würde. „Die dürfen doch nicht verlorengehen!“, war die einhellige Meinung der Anwesenden, während im Hintergrund der Abbruchbagger schepperte und dröhnte. Jetzt hatte ich verstanden! Die Glasfragmente waren Teile des großen Kunstwerks aus Glas und Beton, welches der Glasmaler Joachim Edgar Klos (1931-2007) für die Heilig-Geist-Kirche hier in Düsseldorf-Urdenbach an der Südallee im Jahre 1964 in Zusammenarbeit mit den Werkstätten für Glasmalerei und Mosaik Hein Derix in Kevelaer geschaffen hatte. Ein großartiges Werk eines bedeutenden Künstlers! Es berührte insbesondere diejenigen Menschen, die mit diesem Kunstwerk lange Jahre die Welten aus Licht im Innenraum der Kirche erlebt hatten. So wurde ich Zeuge von etwas, was die Menschen in der Tiefe bewegte.

Vielleicht kann Jan Thorn Prikker dieses Empfinden erklären. Der bekannte holländische Glaskünstler ist der Meinung: „Glasmalerei bedeutet, mit der Sonne selbst zu malen.“ Ein englischsprachiger Filmbeitrag: Lighting the Way: The German Pioneers of Contemporary Stained Glass erklärt mir die Glasmalerei. Ich bin einfach nur begeistert und forsche weiter. Dort habe ich auch diesen Satz gehört, welchen ich so verstehe: „Ein Glaskunstwerk bringt Licht in einen heiligen Raum.“ Er zeigt, dass Glaskunst tiefere Schichten unserer Persönlichkeit zum Schwingen bringen kann.

Lange nach der Entscheidung dieses Gebäude abzureißen, stand die Kirche ja noch. Sehr viel musste geregelt werden. Doch jetzt war es endgültig. Ende Mai konnten Vorbereitungen beobachtet werden und Anfang Juni begann dann lautstark der Abbruch des gesamten Gemeindezentrums. Die Abbruchfläche wurde sichtbar größer. Ich hörte, wie eine Passantin im Vorübergehen entsetzt zu sich selbst sagte: „Was machen die da? Es ist doch eine Kirche!“ Ein befreundeter katholischer Pfarrer, der schon zwei Kirchen profanisiert, außer Dienst gestellt hatte, kommentierte meine Nachricht sehr nüchtern: „Der gesellschaftliche Wandel macht auch vor den Kirchen nicht Halt.“ Eine Freundin, die in meinen Berichten darüber Nachdenklichkeit spürte, meinte mitfühlend: „Denk’ dran, es ist nicht irgendein Gebäude, welches abgerissen wird, – es ist eine Kirche!“

So lässt sich vielleicht auch die Wehmut, mit der manch ein Bauzaungast den Abbruch begleitete ein wenig besser erklären. Die Menschen am Bauzaun berichten von den Seniorentreffen, der eigenen Konfirmation, der Taufe der Enkelkinder, von gemeinsamen Ausflügen und Begegnungen, musikalischen Höhepunkten und sogar vom Bau der Kirche. Ich erfahre aber auch, dass sich viele Gemeindemitglieder schon gut arrangiert haben und jetzt den etwas längeren Weg in die alte Dorfkirche zum Gottesdienst gehen.

Dieser Kirchturm hatte eine Antenne für Mobiltelefonie, ein technisches Gerät. Und doch – als der dinosaurierähnliche Zangenbagger die Antenne vor den dunklen Wolke abkappte, dass sie schließlich herunterfiel, da hätte man annehmen können, dass auch die himmlische Verbindung für einen Moment gekappt worden ist. Dieser pessimistische Gedanke konnte jedoch sofort durch das Wolkenspiel der vom Wind getriebenen Wolken verworfen werden. Der helle blaue Himmel zeigte sich und prophezeite gute und klare Aussichten!

Bei dem Glaskunstmaler Jochem Poensgen (1931-2023) findet sich der Hinweis auf ein Kunstwerk aus dem Jahre 1984 mit dem Titel: „Immer enthüllt das Ende sich als strahlender Beginn.“

Ein Bauarbeiter reichte mir mit einem freundlichen Lächeln durch den Bauzaun ein feucht-gewelltes Heft Predigthilfen, ein Fundstück aus dem Abbruchschutt, und gab mir dazu noch ein paar Glasstückchen in die Hand.

Auf dem Heimweg betrachtete ich die blau-bunten Glasfragmente in meiner Hand. Ja, sie sind zu schade, um sie wegzuwerfen. Doch was bedeuten sie mir? Ich fand keine richtige Antwort. Deshalb entschied ich mich, sie meiner Nachbarin zu bringen, die zu dieser Kirchengemeinde seit Kindertagen einen Bezug hatte. Ihre Freude zu sehen, wie ich ihr die blauen Steine zeige, werde ich nicht vergessen. So gerne wollte sie welche zur Erinnerung haben. Sie hatte sich sehr bemüht, doch irgendwie hatte es nicht geklappt. Und nun waren sie einfach da. Sie erklärte mir dann dazu: „Als Kind habe ich das einfallende Licht der Sonne beobachtet und gestaunt, wenn dieser Lichtschein den Raum hell machte und sich farbig auf dem Fußboden wiederfand. Das hat mich fasziniert und ist eine meiner wertvollsten Erinnerungen.“

Aus dieser Freude heraus habe ich meinen Gedanken freien Lauf gelassen. Beeindruckt durch die vielen Gespräche, die herzliche Offenheit der Menschen im Café vor der Bäckerei, von den neugierigen und wehmütigen Beobachtern am Bauzaun, von der Professionalität und der Freundlichkeit der Abbrucharbeiter und Baggerführer, habe ich „meine Glassteine“ fotografiert und eine kleine Karte gestaltet, die ich einfach an die Menschen, die sie gerne haben mochten, weitergereicht habe. So sind auch meine Gedanken dazu Fragmente, Teile in einem größeren Zusammenhang. Bereits im Johannesevangelium Kapitel 6, Vers 12 finden wir die Aufforderung Jesu nach der Speisung der 5000: „Sammelt das Übriggebliebene, damit nichts umkommt.“ Ebenso wird in verschiedenen anderen Zusammenhängen (z.B. in der Bibliotheksforschung, bei Caesarius von Heisterbach, etc.) oft der lateinische Satz: „Colligite fragmenta, ne pereant!“ (Sammelt die Fragmente, damit sie nicht verloren gehen!) zitiert. Manchmal lässt sich aus gesammelten Bruchstücken etwas Neues zusammensetzen. Deshalb ist es für mich auch nicht zu weit hergeholt, an ein Start-up namens „Shards“ (engl. Scherben) zu denken, welches aus alten Fliesenscherben neue Fliesen herstellt, um unsere Welt nachhaltig zu verschönern. Wer weiß, welchen Nutzen der Bauschutt und das darin enthaltene Restmetall an anderer Stelle bringen. Der Baggerführer hat mir erklärt, dass alles recycelt wird und eine neue Verwendung findet.

Nichts geht verloren!

Die Glocken rufen nun eine andere Kirchengemeinde in München zum Gottesdienst und die Orgel beglückt Menschen in Paris mit ihrem Spiel. Auch alles andere hat eine neue Verwendung gefunden! Das ist aufgeschrieben in einem Erinnerungsbuch, welches mir diese lebendige Gemeinde in all ihren Facetten nachträglich zeigt. Dass ich es geschenkt bekommen habe, ist ein weiterer Dominoeffekt. Dieses Buch hält die Erinnerungen der Menschen wach und wertschätzt die Arbeit aller, die von 1966-2020 dort eine Anbindung, ein Zuhause hatten.

Ich habe mir sagen lassen, das ein Teil des Glaskunstwerks von Joachim Klos in dem dort neu geplanten Diakoniezentrum seinen Platz finden wird. Die anderen Glasfragmente werden persönliche Erinnerungen wachhalten. Bis dahin ist noch viel zu tun. Jetzt haben wir das Jahr 2024.

Noch höre ich die Bagger und die Abbruchmaschinen, die Geräusche der an – und abfahrenden Lastwagen durch unser offenes Wohnzimmerfenster. Jeden Tag wird die Fläche heller und die Arbeiten machen weiter Fortschritte.

Da, wo das Alte nicht mehr sein kann, wird Raum für etwas Neues geschaffen. Die in der Schweiz lebende junge Autorin Sabrina Gundert schreibt das so: Wenn das Alte nicht mehr und das Neue noch nicht trägt, lausche nach innen, auf den Weg, der kommen will.“

Alles ist in Bewegung! In einem Prospekt zu einer Ausstellung des Künstlers Joachim Klos von 2002 lese ich, dass er einen Weg zur Kinetik in Glas geschaffen hat. Alles ist in Bewegung. Weiter lese ich, dass er in Münster ein besonderes Glasfenster in der Thomas-Morus-Kirche geschaffen hat. Mit senkrechten Linien stellt er einen Regenbogen dar. Der Regenbogen, welcher in der Apokalypse des Johannes (4,3) leuchtet, taucht in seinen Werken stark geometrisiert immer wieder auf. Für mich bleibt der Regenbogen ein Zeichen der Bundeszusage Gottes an uns Menschen.

There is hope! Da ist die Hoffnung, dass unser Leben immer ein gelingendes Leben sein kann und sein darf. Warum sonst sollte Joachim Klos dieses Zeichen in zahlreichen seiner Glasfenster dargestellt haben?

Gleich bringe ich wieder einen Brief zum Briefkasten bei dem kleinen Einkaufszentrum und höre dort die Menschen im Café vor der Bäckerei neben der Abbruchfläche miteinander lachen, zusammen sprechen und einander zuhören.

Begonnen haben diese Gedankengänge für mich mit den blauen Glasstückchen, den Fragmenten des Kunstwerks aus dem Betonglasfenster auf dem Café-Tisch. Abschließen möchte ich meine Beobachtungen, Erlebnisse und Gedanken mit einem bekannten Satz von Albert Schweitzer: „Kein Sonnenstrahl geht verloren!“ Meiner Sammlung kleiner Überraschungen fehlt noch eine sehr wichtige Entdeckung am Rande des Bauzauns. Ein interessierter Beobachter sagte zu mir: „Haben Sie gesehen? Die Baufirma hat die Bäume gut geschützt. Die alte Linde hier am Straßenrand ist großzügig eingezäunt. So kann sie trotz der Bauarbeiten leben und wachsen.“

Gisela Minz, Düsseldorf, 15. Juli 2024

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Gastbeitrag
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9 Kommentare

  1. In heutigen Zeiten gibt dieser Bericht Hoffnung und Zuversicht! Herzlichen Dank fürs Teilen! Mögen die Glassteine in den Herzen weiter leuchten!

  2. Ja. Es ist etwas, was ich so erlebt habe. Und über diese Glasfragmente entdecke ich noch mehr Zeichen der Hoffnung und Zuversicht. Und wenn wir uns diese leuchtenden Geschichten erzählen, haben sie diesen Domino- oder Ripple-Effekt. Ich hatte den Mut meine Gedanken auch an meine lokale Internetzeitung viernull.de zu schicken. Auch dort wurde der Text als Gastbeitrag wertgeschätzt. Sogar im Gemeindekurier wurde ein Auszug abgedruckt.

  3. Liebe Gisela, dein Artikel hat mich sehr berührt und noch beim Lesen flossen mir die Tränen – denn da ist so viel Wertschätzung, so viel Wert und Gemeinschaft spürbar in deinem Text. Wie Menschen füreinander sorgen, miteinander da sind, teilen, wertschätzen, zelebrieren. Wie Gemeinschaft entsteht, momentane Gemeinschaft und auf Zeit. Wie ein Austausch stattfindet, etwas Neues aufbricht, mitten im Unbekannten und der Veränderung. Umso mehr hat es mich gefreut, dass du das Zitat, das kleine Gedicht von mir eingefügt hast. Es passt so wundergut! Herzlichen Dank!

    Alles Liebe und danke für deinen Text,
    Sabrina

  4. Liebe Sabrina,
    es ist schon etwas ganz Besonders welches Licht diese kleinen (es gab auch größere) Glassteine gespeichert haben.
    Ich kann verschiedenen Sonnenstrahlen folgen und dabei neue „Geschichten“ notieren. Es sind persönliche Gedanken um kleine Ereignisse. Sie zeigen mir, wie in jedem Augenblick alles miteinander verbunden ist. So sind auch ein kleiner Text auf einem Kalenderblatt, ein freundliches Lächeln, ein heller Sonnenstrahl, ein Regentropfen, ein leichter Windhauch, der mir durch die Haare streicht genauso wichtig wie der Gesang eines Vogels oder das Hupen eines Autos.
    Mit Deinem Kommentar machst Du mir Mut diese Erlebnisse weiter aufzuschreiben.
    Vielen Dank für Deine Zeilen!
    Gisela

  5. Liebe Gisela, so herzlichen Dank für deine berührende Geschichte. Und sie hat so viele Facetten , so viele große und kleine emotionale Stückchen, wie das bunte Glasfenster hat. Ich liebe diese Strahlkraft der bunten Teile, wenn sie auf die Böden das Sonnenlicht farbig ausbreiten. Und auch eine Herzensgeschichte wirft einen vielschichtigen Bogen.
    Als junges Mädchen durfte ich in den Werkstätten Hein Derrix, Kevelaer, mehrere Praktika machen. Leider konnte ich , aus persönlichen Gründen, keine Ausbildung anschließen. Aber die magische Fazination für diese große Kunst begleitet mich durch die Zeiten. Und schön ist es wenn viele Menschen sich vom Mosaik der Steinchen berühren lassen, sie in die Sonne halten und sich freuen können. Das Leben ist ein Kaleidoskop. Danke für deine Geschichte.

  6. Liebe Marion,
    ja. Das Leben ist ein Kaleidoskop. Wenn wir uns mit dem Schauen des Schauen des Schönen beschäftigen, haben wir gar keine Zeit mehr das Nicht-Schöne überhaupt in unser Leben hineinzulassen. Ich glaube, dass die Glasmalkunst zu dieser Möglichkeit beiträgt. Da habe ich schon sehr viel gelernt und schreibe bald eine neue Geschichte, weil plötzlich Dinge in mein Blickfeld kommen, die schon lange da waren, die ich aber nicht erkannt habe. Vielleicht sind diese Fragmente auch mehr als wir zunächst denken. Vielleicht sind in diesen Glasstückchen sehr viele Hoffnungen und Visionen gespeichert. Vielleicht sollte ich deswegen diese Geschichte schreiben und die vielen netten Menschen in meiner Umgebung und bei newslichter kennenlernen.
    Ich freue mich sehr über die vielen positiven Reaktionen auf meinen Text.
    Danke, liebe Marion, für deine Worte.
    Alles Liebe!
    Gisela

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