Wirtschaft der Lebensfülle: Solidago

Foto: Wolfgang Höeschele

Von Wolfgang Höschele, Vorabveröffentlichung aus dem Buch „Wirtschaft Neu Erfinden: Grundlegung für eine Ökonomie der Lebensfülle“. Wie kann eine genossenschaftliche Organisationsform im konkreten Fall aussehen? Hier soll als Beispiel Solidago, eine solidarische Form der Absicherung im Krankheitsfall, angeführt werden. Rechtlich ist Solidago zwar keine Genossenschaft sondern ein Verein, doch arbeitet diese Organisation im Prinzip wie eine Genossenschaft.
Solidago ist eine Solidargemeinschaft für Gesundheit und dient der Absicherung ihrer Mitglieder im Krankheitsfall, ähnlich wie eine Krankenversicherung – allerdings gestalten die Mitglieder alle Bestimmungen und Abläufe selbst. Die untere Graphik fußt auf meinen Erfahrungen und Beobachtungen als aktives Mitglied seit Anfang 2015. Der Hauptzweck dieser Organisation ist der Schutz der finanziellen Stabilität der Mitglieder im Krankheitsfall (unten in der Graphik). Da dieser Schutz am größten ist, wenn die Mitglieder gar nicht erst krank werden, und da die Mitglieder selber gesund bleiben wollen, ist der Gesundheitszustand der Mitglieder (unten links in der Graphik) das wichtigste zu wahrende Gut. Daraus folgt, dass Salutogenese, die Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit, einen hohen Stellenwert genießt – man redet darüber, und die Mitglieder der Ortsgruppen sollen einander nicht nur finanziell sondern auch emotional unterstützen. Mitglieder mit gesundheitlichen Fragen oder Anliegen sollen in Solidago gute Ansprechpartnerinnen finden. Da solche Fragen oft nur vertrauensvoll behandelt werden können, soll jedes Mitglied innerhalb der Organisation eine Patin als Vertrauensperson aussuchen. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, sich je nach Bedarf mit anderen Mitgliedern über Gesundheitsthemen auszutauschen. Schließlich wird den Mitgliedern größtmögliche Freiheit gewährt, ihre bevorzugten Therapieformen eigenverantwortlich zu wählen, weil sie ja selber das größte Interesse daran haben, im Krankheitsfalle wieder gesund zu werden.

Wie werden die finanziellen Kosten behandelt? Mitglieder, deren Gesundheitszustand sich verschlechtert, suchen medizinische Behandlung, um wieder zu gesunden (umgekehrt gehen sie selten zum Arzt, solange sie gesund sind). Dies ist unten links dargestellt. Die medizinische Behandlung kostet Geld, gemäß Preisen für Gesundheitsdienste, die von Solidago nicht beeinflusst werden können. Ohne Solidago oder eine Krankenversicherung würden diese Kosten direkt die finanzielle Stabilität der Mitglieder gefährden. Tatsächlich werden die Kosten aus Vereinskonten bezahlt (zunächst aus dem Konto der Ortsgruppe, bei Bedarf aus dem Konto einer Regionalgruppe oder des Bundesverbandes) und vermindern den Kontostand also dort.

Die Vereinskonten werden gespeist aus den Mitgliedsbeiträgen, die so errechnet worden sind, dass die durchschnittlich auftretenden gesundheitlichen Kosten damit abgedeckt werden können (höhere Gesundheitskosten führen also mit einiger Verspätung zu höheren Beiträgen). Die Beiträge richten sich ähnlich wie die der gesetzlichen Krankenkassen nach dem Einkommen, allerdings sollen Solidago-Mitglieder 10 Prozent ihres Gesamteinkommens einzahlen und nicht wie gesetzlich Versicherte 15 Prozent ihres Gehaltes aus abhängigen Beschäftigungsverhältnissen. Die Erstattung der Beiträge aus den Vereinskonten dient zur Wiederherstellung der finanziellen Stabilität im Krankheitsfall. So oder so kommt das Geld für die medizinische Behandlung aus den Taschen der Mitglieder (daher die rote Linie von den Beiträgen zur finanziellen Stabilität der Mitglieder). Regelmäßige und kalkulierbare Mitgliedsbeiträge bedeuten allerdings eine geringere Belastung als plötzliche, unvorhersehbare und unvermeidliche Ausgaben im Falle einer schweren Krankheit, weshalb Solidago insgesamt zur finanziellen Stabilität der Mitglieder beiträgt.

Die Graphik zeigt keine Wechselwirkungen mit Arbeiterinnen, weil derzeit fast alle Arbeit ehrenamtlich erledigt wird. Dazu gehört die Verwaltung und die strategische Arbeit des Vorstandes, die Arbeit in den Ortsgruppen (Vorstände, Kassenwarte, Treuhänderinnen) und die Teilnahme an den regelmäßigen Mitgliederversammlungen. Allerdings ist neuerdings eine Teilzeitstelle mit der zentralen Buchführung beauftragt worden, und ein starker Anstieg der Mitgliederzahl könnte eine stärkere Professionalisierung der Arbeit erforderlich machen.

Grafik: Wolfgang Höschele

Um auch für Extremfälle (z.B. eine Häufung kostenintensiver Krankheiten) gewappnet zu sein, muss Solidago Rückstellungen machen (rechts in der Graphik). Für diesen Zweck und den laufenden Betrieb nicht benötigte Mittel (neben Geld vor allem die Zeit seines Vorstandes) investiert Solidago zur Zeit vorrangig, um rechtliche Anerkennung als anderweitige Absicherung neben privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen zu erlangen, und um seine Mitgliederzahl zu erhöhen. Mehr Mitglieder ermöglichen mehr politischen Einfluss, der die Anerkennung wahrscheinlicher macht; umgekehrt würde eine Anerkennung sehr zur Gewinnung neuer Mitglieder beitragen. Mehr Mitglieder würden mit ihren finanziellen und anderen Beiträgen die Stabilität der Organisation und ihrer Mitglieder festigen.

Solidago hat im Gegensatz zu herkömmlichen Versicherungen kein Interesse daran, ungerechtfertigte Ängste zu schüren, damit Mitglieder sich übermäßig versichern. Das würde den Mitgliedern (und damit Solidago selber) nicht nützen, und würde die Vereinskonten nur zeitweilig anschwellen lassen, weil bei fehlenden Ausgaben früher oder später die monatlichen Beiträge gesenkt würden. Die Mitglieder selber gehen in der Regel verantwortlich mit ihren Ansprüchen um, weil sie wissen, dass sie damit zunächst das gemeinsame Konto ihrer eigenen Ortsgruppe belasten, über dessen Höhe alle in der Gruppe im Bilde sind. Außerdem weiß jedes Mitglied, dass die eigenen Beiträge nicht in einer großen anonymen Masse verschwinden, sondern der größte Teil direkt vor Ort verwaltet wird. Das eigene Verhalten (ob als abgesichertes Mitglied oder als Mitglied, das Verwaltungsaufgaben übernimmt) hat auch von anderen bemerkbare Auswirkungen auf das Ortsgruppenkonto. Solche Transparenz fördert verantwortungsvolles Handeln und senkt tendenziell die Gesundheitskosten, ohne den Mitgliedern hohe finanzielle Kosten aufzubürden.

An den regelmäßigen Mitgliederversammlungen treffen die Mitglieder grundlegende Entscheidungen über die Konditionen und die Gestaltung ihrer Gesundheitsabsicherung. Sie brauchen sich nicht mit dem zufriedenzugeben, was ihnen geboten wird. Sie vermeiden intransparente Vertragsgestaltung wie sie leider bei privaten Krankenversicherungen Gang und Gäbe ist. Nicht Konkurrenz am Markt, sondern die Selbstbestimmung der Mitglieder als Miteigentümerinnen führt zu einem bedarfsgerechten Angebot. Dieses Vorgehen ist sehr viel effektiver als der fragwürdige Wettbewerb in einem Marktsegment mit langjährigen Vertragsbindungen und höchst intransparenten Angeboten.

Wie in jeder Organisation gibt es natürlich auch in Solidago Konfliktpotential. Nicht alle wollen ihrem Einkommen entsprechend einzahlen. Was als Gesundheitsausgabe zählt erlaubt einen gewissen Interpretationsspielraum. Manche Mitglieder vertragen sich persönlich schlecht, haben verschiedene Ansichten über den besten Weg zur Anerkennung, oder haben unterschiedliche Verhältnisse zu Geld. Allerdings hat Solidago keinerlei Interesse daran, überhöhte Beitragszahlungen zu verlangen oder seine Mitglieder gegen imaginäre Risiken zu versichern. Der Verein ist nicht in der Lage, überhöhte Gehälter auszuzahlen, und von seiner Struktur her wird sich das auch in Zukunft nicht ändern. Kurz ausgedrückt: Solidago kümmert sich um das Wohl seiner Mitglieder, weil es aus seinen Mitgliedern besteht. Derzeit erfordert der Verein zwar einen großen persönlichen Zeiteinsatz seitens vieler seiner Mitglieder, doch auch dieser könnte sich verringern wenn der Verein weiter wächst und die Verfahrensabläufe routinierter werden.

Crowdfunding für „Wirtschaft der Lebensfülle“

In der heutigen Zeit großer Verunsicherung brauchen wir neue Zugänge zu der Frage, wie die Wirtschaft nachhaltig, sozial ausgeglichen und krisenbeständig werden kann. Für das Buch „Wirtschaft neu erfinden: Grundlegung für eine Ökonomie der Lebensfülle“ läuft noch bis Ende Februar eine Crowdfunding-Kampagne. Der Autor, Wolfgang Höschele, will damit seinen finanziellen Beitrag zur Veröffentlichung des Buches beim oekom Verlag leisten. Er versendet Buchexemplare an Unterstützer/innen, sobald das Buch veröffentlicht ist (voraussichtlich im März). Hier mehr.

Das Buch trägt zu einem neuen Verständnis unserer Wirtschaft bei, indem es Fragen auf etwas andere Art stellt. Zum Beispiel:

Wie sind Wirtschaftspolitik und Unternehmensformen so auszurichten, dass Geldeinnahmen nicht als Selbstzweck, sondern als ein notwendiges aber nicht hinreichendes Mittel zur Selbsterhaltung und zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienen?

Wie können liberale Begründungen des Eigentums herangezogen werden, um neue Unternehmensformen zu entwickeln, die aus eigenem Antrieb (nicht bloß gesetzlich erzwungen) bedürfnisorientiert produzieren, Umweltgüter schützen, und zum sozialen Ausgleich beitragen?
Wie können Markttransaktionen analytisch getrennt werden einerseits in Tausch unter Gleichen und andererseits in Abgaben, die zur leistungslosen Bereicherung weniger privilegierter Menschen und zur sozialen Polarisierung beitragen? Wie können Abgaben umgestaltet werden, damit sie partnerschaftlichem Tausch entsprechen?

Wie können die Steuerpolitik und die Regeln der Geldschöpfung und -Zirkulation so gestaltet werden, dass die Wirtschaft genau dort wächst, wo dies wegen unbefriedigter menschlicher Bedürfnisse oder zur Erhaltung der Lebensgrundlagen erforderlich ist?

Wie kann eine Grundsicherung so gestaltet werden, dass sie nicht nur „fördert und fordert,“ sondern anregt, die eigene Kreativität, Erfindungs- und Schaffenskraft für das Gemeinwohl einzusetzen und dadurch Lebensfreude zu gewinnen?

Wie können Entscheidungs- und Wahlprozesse so gestaltet werden, dass möglichst Alle sich im Ergebnis wiederfinden können, und dass polarisierende und polemisierende Kandidaten keine Chance haben?

Wie können Krisen tatsächlich als Chance für eine konstruktive und zukunftsfähige Fortentwicklung unserer Wirtschaft genutzt werden?

Zur Person:
Als deutscher Migrant, der in Thailand, Korea und Griechenland aufgewachsen ist, danach mehr als die Hälfte seines Lebens in den USA verbracht hat und schließlich als Quasi-Fremder nach Deutschland gezogen ist, sieht Wolfgang Höschele das Leben hier gleichzeitig von innen und außen. Als ehemaliger Geographieprofessor, der jetzt seine eigenen Wege geht, verbindet er die Vorteile einer wissenschaftlichen Fundierung mit der unbequemen Sicht eines Menschen außerhalb der etablierten Institutionen. Als sozialgeographisch und biologisch ausgebildeter Quereinsteiger in die Ökonomik stellt er Fragen anders als herkömmliche Wirtschaftswissenschaftler, und verwendet systemanalytische Methoden, um auf neue Antworten zu kommen.

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