Eine Reise der Menschlichkeit

Lesezeit 8 Minuten –

Von Sabrina Gundert. Vor meiner Abreise auf die Färöer Inseln haben meine Seminarteilnehmerinnen gemunkelt, ob bereits ein Wikinger an der Fähre auf mich wartet.Solch einer mit breiten Schultern, rotem Haar und dichtem Bart. Sie waren ganz sicher: so einen (oder ganz viele davon) gibt es da auf den Inseln. Sie sagten auch, sie würden zu den nächsten Seminaren auf die Färöer kommen, sollte ich dableiben wollen. Das hat mich berührt, ermutigt und erheitert.

Wenn mein Leben ein Film wäre (einer, bei dem man vorher schon weiß, wie es weitergeht), wäre es sicher auch so gekommen: Sabrina geht von der Fähre, trifft einen Wikingermann und gründet mit ihm ein Seminarzentrum fern ab von allem.

Da mein Leben kein Film ist (zumindest nicht so ein vorhersehbarer),
bin ich seekrank morgens um 6 Uhr nach drei Tagen von der Fähre gestiegen
und hätte um ein Haar meine Hand in der zuschlagenden Taxitüre stecken gehabt
– ich hatte den Sturm vor Ort unterschätzt.

Wenn diese Reise hoch in den Norden einen Titel bekommen sollte, würde er Eine Reise der Menschlichkeit lauten. Denn ich habe noch nie so viele Geschichten von Menschen gehört, noch nie so viel Menschlichkeit erfahren.

Als ich vor dem Losfahren in Engen am Bahnhof stand – meine Reise würde mich 16 Stunden bis hoch nach Dänemark und am Tag darauf zur Fähre bringen –, war mein einziger Gedanke: Was mache ich hier eigentlich? Auf der Fahrt von Engen nach Stuttgart war ich einfach nur traurig und müde. Als ich meinen Platz im IC von Stuttgart nach Hamburg einnahm und meiner Sitznachbarin Hallo sagte, dachte ich: Das könnte spannend werden!

Und das wurde es. Angefangen von diesem Sitzplatz in Stuttgart bis zum Rückweg ab Kopenhagen über Flensburg und Köln, habe ich überall nur Menschen getroffen. Das ist eine wesentliche – wenn vielleicht auch total unspektakuläre und vielleicht doch die wichtigste – Feststellung dieser Reise: Überall sind nur Menschen.

Menschen, von denen wir, wenn wir sie auf der Straße treffen, vielleicht denken:
‚Die haben es geschafft, bei denen läuft immer alles rund.‘
Doch dem ist nicht so.

Ich habe von genau jenen Menschen viele Geschichten gehört. Besonders viele Trennungsgeschichten – Geschichten von Verrat und Betrug, von geplatzten Träumen und Familienplänen, von Todesfällen, Schmerz, Traurigkeit, Wut und Verzweiflung. Ich habe Geschichten gehört von Menschen, die an Abgründen standen – so wie eine jede und ein jeder von uns, immer wieder. Geschichten von Menschen, die nicht wussten, wie sie es schaffen, wie sie den nächsten Schritt setzen sollten, was sie weitertragen würde.

Und ich habe auch von dem gehört, was sie hat weitergehen lassen, habe ihren Mut gespürt, eine Kraft, die sie am Leben gehalten, sie hat weitergehen lassen, ohne dass sie manchmal im Rückblick sagen konnten, wie das eigentlich gegangen ist. Ich habe von helfenden Händen, Menschen, die genau zur rechten Zeit auftauchten und von tragenden Freunden und Familie gehört. Ich habe mit eben jenen Menschen gelacht, geschwiegen, geweint und mitgefühlt. In unserem Schmerz wie in unserer Liebe haben wir unser Verbundensein als Menschen erkannt.

Dass ist etwas, was ich auf den Färöern besonders eindrücklich erlebt habe: Wenn 50.000 Menschen zusammen mit 80.000 Schafen auf 18 Inseln mitten im Atlantik sitzen, wissen sie, dass sie aufeinander angewiesen sind. Weil jede andere Insel unendlich weit weg ist. Weil sie nur einander haben, hier und jetzt. Auf den Färöern hat sich daraus ein starkes Miteinander ergeben, wie ich es hier in Deutschland von Lebensgemeinschaften und intakten Dörfern kenne.

Mir kam das Bild von uns Menschen auf der Erde,
und dass das eigentlich nicht anders ist:
Dass wir auch in Europa letztendlich (salopp gesagt)
auf einer riesigen Insel im Meer sitzen.
Dass wir letztendlich als Menschen auf einem Planeten mitten im All sitzen.
Gemeinsam mit denen, die jetzt mit uns hier sind.

Auf den Färöern bin ich zum ersten Mal getrampt (und habe erfahren, wie gerne Menschen einen im Auto mitnehmen können). Ich habe mit einem 70-Jährigen, der jeden Tag vor dem Parlament die färöische Nationalflagge hisst, und den ich zufällig am Meer getroffen habe, am Abend die Flagge zusammengefaltet – und mir von ihm anschließend die Hauptstadt bei Nacht von oben zeigen lassen.

Ich habe mit drei Schwedinnen, die auf einer Brustkrebskonferenz waren und von denen ich dachte, sie seien allesamt Ärztinnen, bis sich rausstellte, dass sie alle Betroffene waren, drei Stunden im einzig beheizten, offenen Raum auf einer kleinen Insel auf die Fähre zurück in die Hauptstadt gewartet und Lebensgeschichten wie Bilder geteilt, da draußen ein Sturm jeden Schritt verunmöglichte und jedes Café geschlossen war.

Ich war im Kino und habe mit zwei anderen Menschen zusammen einen englischen Film mit dänischem Untertitel geschaut, der zufällig von einer Frau mit langjährigem Kinderwunsch und Beziehung mit Alltagsproblemen handelte und davon, wie ihr Mann Interesse an einer Kollegin fand und daraufhin die Beziehung mit ihr beendete – der Film endete damit, dass die Hauptdarstellerin sich dadurch auf den Weg zurück zu sich, zu ihren Lebensträumen und in ihre Kraft begab.

Neben ständig wechselndem Wetter – Sonne, Sturm und Regen binnen weniger Minuten – habe ich noch nie so viele Regenbögen hintereinander gesehen und nicht geahnt, dass es tatsächlich Sturm gibt, der einem Fuß und Beine vom Boden abhebt.

In Tórshavn, der Hauptstadt der Färöer,
habe ich bei einem Treff für alte und neue Färöer einen
Mini-Färöisch-Sprachkurs besucht (Eg eiti Sabrina),
habe auf einer kleinen Insel auf einem Pfad, der im Nirgendwo endete,
zwischen Hügeln und Meer mit Schafen,
die links und rechts von mir liefen, finnische Joiks gesungen.
Ich habe gelernt, was es heißt, „mit den Wellen zu gehen“,
wenn die Option, von Bord zu gehen, nicht besteht.

Ich habe neue Freundinnen und Freunde gefunden. Menschen, die von Zugmitreisenden und Fährgefährtinnen zu Freundinnen und Freunden wurden. Menschen, die mit mir ihre Geschichten geteilt haben, die echten, nicht die geschönten. Ich habe so viel Neues erfahren und gesehen, wie schon lange nicht mehr. Meine Liebe am Reisen wiederentdeckt und zu den Geschichten der Menschen vertieft. Mich von diesem Licht dort oben immer wieder aufs Neue faszinieren lassen.

Ich habe neue Perspektiven und Blickwinkel gewonnen. Ich habe erfahren, dass ich noch stehen kann (was ich ja hatte überprüfen wollen).

Heute kann ich sagen:
Diese Reise war mit das Beste, Grandioseste, Verrückteste und Ungeplanteste,
was ich jemals getan habe.
Ohne einen Reiseführer gelesen zu haben,
ohne zu wissen, was es dort zu sehen gibt oder was mich erwartet,
wusste ich nur: Ich muss dahin.
Und staune rückblickend, wie sich alles gefügt hat.
Wie die Menschen einander nahtlos die Hand zu geben schienen,
wie die Geschichten zusammen ein großes Ganzes ergeben.

In meiner eigenen Geschichte, in dem, was in den vergangenen Monaten passiert ist (hier nachlesen), fehlen mir noch Puzzleteile. Dinge, die ich nicht zusammenbekomme, Fragen, die noch offen sind, Geschehnisse, die noch keinen (und vielleicht nie) Sinn ergeben. Die Fragen mitzunehmen, im Nichtwissen stehen zu bleiben und mir zu erlauben, mich immer wieder von der (oft recht drängenden) Suche nach Antworten zu lösen, darin übe ich mich. Die Geschichten auf der Reise und mein eigenes Gehen machen mir Mut, zugleich den nächsten Schritt zu setzen.

Kürzlich sagte eine Frau zu mir: „Leider gibt es keine Abkürzung aus dem Ganzen“. Erst sagte ich „Ja, leider“ – doch dann merkte ich, dass das nicht stimmt. Natürlich, in vielen Momenten – wenn ich mitten in den Fragen, in den aufgewühlten Gefühlen und Unsicherheiten stehe – wünsche ich mir, einfach aus dem Ganzen rauszukommen. Doch eigentlich bin ich viel zu neugierig. Ich bin neugierig, wo mich diese Reise hinführt, die mir so viel entrissen und so viel Neues in die Hände gelegt hat. Ich will wissen, wo ich am Ende rauskomme und wie es dann wieder weitergeht. Ich möchte wissen, was trägt, wenn nichts mehr trägt und es immer wieder neu erfahren. Ich möchte weitergehen, um zu wissen und zu erfahren.

Danke möchte ich auch sagen.
Für all die Rückmeldungen hier bei den newslichtern.
Für das Teilen all der persönlichen Geschichten.
Für das spürbare Verbundensein.

Danke zugleich für das Verständnis, wenn ich nicht jede Nachricht persönlich beantworte – gelesen habe ich sie alle und sie bestärken mich weiterhin darin, für und in diesem Verbundensein als Menschen miteinander und jede(r) für sich weiterzugehen.

Den Laptop zum Schreiben habe ich übrigens zuhause gelassen. Mein Koffer ließ sich erst packen, als ich den Laptop aus und dafür ein großes, bequemes Kissen eingepackt habe. So war ich drei Wochen nur lauschend unterwegs. Ich habe ein Buch vollgeschrieben, eines, mit den Essenzen meiner Reise. Und ich werde den Faden des neuen Buches über Schwellenzeiten wieder aufnehmen. Und mich melden, wenn es soweit ist, dass es in die Welt gehen kann.

Sabrina Gundert ist Autorin von „Auf dem Herzensweg“ und „Hab Mut und geh“. Sie begleitet Frauen und Männer mit ihren Coachings, Seminaren und Büchern auf dem Weg zurück zu sich selbst, in ihre Kraft und damit zu dem, was ihnen wirklich wichtig ist. 2017 hat sie das Printmagazin Verbundensein herausgebracht. Ganz frisch bietet sie wieder die persönlichen Seelenbotschaften an. www.sabrinagundert.de

Was bleibt sind Schmerz und Liebe

Sharing is caring 🧡
Gastbeitrag
Gastbeitrag

Viele wertvolle Gastautorinnen und -autoren unterstützen und schreiben für die newslichter. Informationen zu der jeweiligen Person finden sich am Ende des jeweiligen Artikels

7 Kommentare

  1. Liebe Sabrina, du bist eine tolle Frau. Ich verneige mich vor dir. Du wirst gestärkt und voller neuer Lebenskraft aus dieser Lebensphase gehen, denn dich trägt die allumfassende Liebe.
    Von Herzen alles Gute
    Margit

  2. Wunderschön. Ich bewundere Deine Kraft das durchgezogen zu haben. Der Bericht klingt so leicht, im Sinne von unbeschwert aber auch reifer, weiser, authentischer als vorherige. Als wenn Du „ganzer“, „runder“ geworden wärst. Danke, dass Du Deine Leser an dieser Veränderung teilnehmen lässt.
    Ich wünsche Dir alles Gute 🙂
    Cornelia

  3. Liebe Sabrina,
    da steckt soooo unendlich viel Liebe in Deinen Zeilen – und Mut, Kraft und Hoffnung. Danke für´s teilen Deiner ganz persönlichen Reise, die mir ganz viel gibt. Du bist für mich ein Vorbild <3

    Ein hoch auf diese innere Stimme in Dir! Folge weiter Deinem Herzen und alles wird sich – Puzzlestück für Puzzlestück- fügen.
    Herzliche Grüße – alles Gute!

  4. Liebe Sabrina…
    Wundervoll und so anschaulich geschrieben ..ich fühle mich, als wäre ich dabei gewesen.
    Und Abkürzungen sollte man sich nicht nehmen ..eher Umwege, denn diese bereichern einen „unheimlich“.
    Danke für dein Mit-machen…♥️
    Marion

  5. Wow, was für eine (be-)rührende Geschichte. Faszinierende Bilder auch – danke fürs Teilen.

    Wie können allerdings solche tollen Menschen, wie Du die Färöer beschreibst, so grausam sein? Wie können sie solch schreckliche Morde an Walen begehen bzw. hinnehmen und sich daran noch ergötzen, wie die Tiere Jahr für Jahr aufs Grausamste niedergemetzelt werden… Wie geht das zusammen? Herzlich, aber grausam, gewissenlos. Und sie wissen genau, was sie tun…
    Wie ist es Dir damit gegangen? Ich meine, daran vorbei kommt man ja sicher nicht, wenn man auf die Färöer fährt. Das hat man ja schon im Gepäck als bewusster Mensch, wenn man die Insel betritt. Und wie kann man das mit dem eigenen Gewissen vereinbaren?
    Ich wünsche Dir alles Liebe auf Deinem weiteren Weg.

  6. Hallo Sabrina,

    vielen Dank für Dein Teilen. Es hat mich wieder einmal sehr berührt und ich finde mich wieder. Das macht es für mich unendlich wertvoll.

    Ich wünsche Dir weiterhin die Kraft und dem Mut, deinem Herzen zu vertrauen.

    Liebe Grüße

    Björn

    P.S. Danke für die Frage, Carola. Das beschäftigt mich auch.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert