Partitur eines schöpferischen Lebens

Frederick Bunsen/Partitur

Von Gisela Minz. Es ist schon ein paar Jahre her, als ich meine persönliche Lebenssituation „schwarz malte.“ Ich hatte ein weißes, leeres Blatt mit schwarzen Strichen und Schraffierungen schwarz gefärbt. Letztendlich schaffte ich es, meinen Blick wieder auf die hellen und lichtvollen Seiten des Lebens zu lenken, die Schönheit in den Menschen, in meiner Umgebung, den Dingen um mich herum und vor allem in mir selbst wiederzufinden. Das mit Kohlestift geschwärzte weiße Blatt Papier landete im Papierkorb.

Heute betrachte ich ein abstraktes Bild des Künstlers Frederick Bunsen. Es ist ein in mehreren Schichten mit Acrylfarbe gemaltes Bild. Mit seiner Größe von 2 m x 3 m bedeckt es fast eine ganze Wand des Ausstellungsraumes in der Art-Road-Way Kunstschule in Ammerbuch-Breitenholz in der Nähe von Tübingen.

Viele kurze, bündelweise angeordnete schwarze Striche füllen die gesamte Leinwand. Der Kulturredakteur Thomas Morawitzky (Herrenberger Gäubote) schreibt von „vielen in geschwungenen Blöcken gesetzte Schraffierungen, die diese Wand mit einem großen rhythmischen Tanz ausfüllen.“ Es könnten auch zerschnittene Notenlinien sein, die völlig ungeordnet wieder aufs Papier geklebt worden sind. Morawitzky spricht von „dicht an dicht übereinander gesetzten Pinselschlägen, vibrierenden Flächen gestischer Struktur.“

Oben, am rechten Rand ist eine helle Lücke ausgespart. Die schwarzen Striche ergeben zunächst kein erkennbares Muster oder eine regelmäßige Struktur. Aus der Entfernung betrachtet wirkt dieses Bild dunkel und schwarz. So nehme ich es mit einem ersten Blick als dunkel und düster wahr. Es scheint für mich so, als ob sich meine eigene verdunkelte Sichtweise von vor langer Zeit in dem Bild noch einmal spiegelt.

Doch mit jedem Schritt, mit dem ich mich dem Bild weiter nähere, werde ich mit neuen Entdeckungen belohnt. Denn jeder schwarze Strich, jedes Strichbündel birgt eine neue Überraschung in sich. Je näher und genauer ich hinschaue, umso kontrastreicher entwickelt sich die Wirkung der Muster. Es scheinen Räume, Figuren, Wege, Pfade, Brücken oder auch Wasserläufe freigelegt zu werden. Meine Augen entdecken Dächer, Bögen, Kämme und andere kreative Perspektiven.

Und je länger ich das Bild betrachte, umso heller wird es. Es sieht so aus, als ob die dunklen Stäbchen auf hellblauen, türkisfarbenen Wellen schwimmen und sich immer neu anordnen. Indem das Bild für mich lebendig wird, werden mehrere Übermalungen erkennbar: Das tieferliegende Blau lässt helle, weiße Flecke sichtbar werden. Unter dem Blau, dem Weiß und dem Schwarz liegt noch eine weitere Schicht verborgen. In einem mittleren Teil des Bildes und an den Rändern füllen einige rote Striche die Flächen zwischen den schwarzen Strichen aus. Spontan folgen meine Augen dem Weg dieser roten Felder, die sich fast wie zufällig in dem Fluss der schwarzen Striche befinden.

„Entdecke deine Schönheit, deine Lebensfreude,
die Vielfalt deiner Möglichkeiten,
deine Kraft, deine Lebendigkeit.
Und lebe sie – in jeder Minute deines Lebens.“

Angaangaq

Ausschnitt: Frederick Bunsen/Partitur

Diese roten Pinselstriche können auch zeigen, dass in einer tieferen Schicht etwas glüht oder einfach in Bewegung geraten ist. Rot als eine Farbe des Feuers und der Wärme liegt neben dem Schwarz als einer Farbe der Dunkelheit. Blau und Weiß erscheinen mir als Farben des Wassers und des Eises. Wärme und Kälte, Licht und Dunkelheit, Feuer und Eis bergen Gegensätzliches. Im Oszillieren der Gegensätze wird etwas Helles, wird Leben sichtbar.

Ich habe den Eindruck, dass je näher und intensiver ich mich auf die sich nur scheinbar wiederholenden Details dieses Bildes einlasse, ich mehr zu meinem Ziel komme, nämlich dem Verstehen des Ganzen. Gerade weil in sehr abstrakter Weise Strichbündel kontrastiv dargestellt sind, gelange ich in die tiefen Schichten des Bildes – und zu mir selbst. Jede Lücke eröffnet einen neuen Horizont und damit neue Möglichkeiten. Das Blau führt zu einer besonderen Betrachtung: Hier ist ein unendliches Meer der Möglichkeiten! Genauso wie ich in einem Farbkasten die gesamte Palette der Farben nutzen kann, kann ich zu jeder Zeit eine Entscheidung für die Schönheit des Lebens treffen.

Zu meiner Überraschung entdecke ich in dem Bild, wieder eine Schicht tiefer geblickt, in diesem weiten Meer der Möglichkeiten die Farbe Grün. Ich werte sie als Zeichen der Hoffnung! Sie leuchtet an verschiedenen Stellen wie eine zarte Pflanze und symbolisiert einen Wachstumsprozess. So wird klar, dass Bunsens Bilder work in progress sind, Malerei im Entstehen ist.

Eine vertikale und eine horizontale Linie versuchen dem Bild in der linken Hälfte einen Halt, eine Struktur, zu geben. Oder ist es genau das Gegenteil? Wird hier etwas durchkreuzt? Der eisblaue changierende Fleck am oberen rechten Bildrand wirkt wie ein Blickfang. Er bildet eine große Lücke zwischen den kleineren Strichbündeln. Diese Lücke markiert einen Zugang zu einer weiteren Dimension, einem Raum für die Überraschungen, die sich in dem grenzenlosen Meer der Möglichkeiten ereignen können. Gleichzeitig macht diese Lücke im Betrachten eine tragende Kraft sichtbar: Zuversicht und Vertrauen! Mir vermittelt dieses Bild, dass unser Leben immer ein gelingendes Leben sein kann. Diesen Impuls lassen das Spiel der Linien und des Lichts als Partitur eines kreativen Lebens lebendig werden.

Fasziniert durch die Vielfalt der Strukturen und Farben habe ich einen Ausdruck des Bildes an das Fenster unseres Wohnzimmers zum Garten hin angebracht. Mich begeistert dieses Bild! Mit jedem Blick entdecke ich hier im Licht immer neue Möglichkeiten – und lasse mich überraschen!

„Sich einem Kunstwerk aufmerksam anzunähern,
es wahrzunehmen und es zu interpretieren,
ermöglicht jedem Beobachter und jeder Beobachterin,
Momente der eigenen Wirklichkeit darin zu erkennen.“

Herzensgrüße von unserem Künstlerfreund

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2 Kommentare zu “Partitur eines schöpferischen Lebens
  1. Paula sagt:

    Mich erfreut sehr, dass du im „Meer der Möglichkeiten“ deine Seh-Erlebnisse mit Frederick Bunsen so vortrefflich darstellst und für mich weiter intensiv ins „verstehen des Ganzen“ bringst. Dein immer mehr und Meer „sehen“, so großARTig von dir beschrieben. Mögen dich deine Fenster-Licht-Betrachtungen täglich aufs Neue überraschend erfreuen. Danke für deine Erinnerung an F. Bunsen und der damit verbundenen „Seh“-Erinnung, der Wahrnehmung des Daseienden, dass sich bei näherem, nahem Interesse gerne offenbart.
    Ich erinnere mich plötzlich an Hans Hartung, Maler/Grafiker, der mit seinem ungegenständlichen Stil grafischer Linienspiele seine „Gewitterblitz“ – Kindheitserinnerungen künstlerisch darstellte. Herzliche Grüße, Paula

  2. Gisela Minz sagt:

    Liebe Paula,
    vielen lieben Dank für diese sehr positiven Impulse. Frederick Bunsens Kunst lässt neue Horizonte entdecken. Auch aus meinem Freundeskreis kamen viele wertschätzende Zustimmungen – Überraschungen, die mir weiterhin Mut machen, meine Gedanken aufzuschreiben.
    Herzliche Grüße
    Gisela

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