Das Wunder von Mulatos

Mulatos Foto: Martin Winiecki

Von Martin Winiecki. Das Friedensdorf San José de Apartadó ist eine ländliche Gemeinde von über 1.500 Menschen im Norden Kolumbiens. Sie gehören keiner Organisation an, tragen keine Waffen und sind durch eine unerschütterliche Friedensethik miteinander verbunden. Aber sie stehen den Globalisierungsplänen von Regierung und Konzernen im Weg, deshalb geht der Staat brutal gegen sie vor. Sie haben in den letzten 13 Jahren fast 200 Mitglieder verloren, ermordet durch Militär, Paramilitärs und Guerilla. Im Jahr 2005 wurde Luis Eduardo Guerra, einer ihrer Visionäre und Führer, zusammen mit seiner jungen Frau, seinem kleinen Sohn und einer weiteren Familie von Militär und Paramilitär brutal ermordet. Er verkörperte wie kaum ein anderer die Kraft der Gemeinschaft, immer weiter nach vorne zu gehen. Seine Ermordung war ein so heftiger Schlag, dass die Gemeinschaft drohte zu zerbrechen.

Gloria Cuartas, die als ehemalige Bürgermeisterin von Apartadó die Friedensgemeinde von Anfang an begleitet hat, startete einen Notruf für Unterstützung in diesem schweren Moment. Sie hatte Jahre zuvor das Friedensforschungszentrum Tamera und deren Vison von einem realen Lebensmodell für eine friedliche Zukunft kennengelernt. „Ihr habt hier“, sagte sie zu den Menschen Tameras, „unseren eigenen Traum weitergeführt, den wir schon so lange begraben haben.“ Jetzt spricht sie Tamera an und schlägt vor, zwei Vertreter von San José einzuladen. Und wirklich, Eduar und Padre finden in Tamera das ursprüngliche Seelenbild von Gemeinschaft wieder. Es ist der Anfang von gegenseitigen Besuchen, einer sich stetig vertiefenden Kooperation und immer tieferen Freundschaft zwischen beiden Gemeinschaften. Sabine Lichtenfels, Mitgründerin von Tamera, lädt seit 2005 mehrfach zu Friedenspilgerschaften „im Namen von Grace“ ein. Im Oktober 2008 führt sie die erste Caminata por la Vida, eine Pilgerschaft im Namen von Grace, durch San José de Apartadó, um das Licht der internationalen Aufmerksamkeit auf die Friedensgemeinde zu richten und Anteil zu nehmen.

Auch davon getragen zieht im Dezember 2009 eine Kerngruppe bergauf zu der Todesstätte von Luis Eduardo Guerra. Sie wollen dort einen Ort schaffen für planetarische Friedensarbeit. Trotz schwierigsten Bedingungen steht nach zwei Monaten Bauzeit ein fertiges Zentrum. Fernab von Straßen, ohne Geld, in ständiger Bedrohung und umzingelt von bewaffneten Gruppen haben die Männer, Frauen, Jugendliche der Friedensgemeinde viele Stunden von ihrem Wohnort entfernt drei Hektar Wald gerodet. Versammlungsplätze und Unterkünfte für 120 Menschen, Schulhaus und Küche errichtet. Tag und Nacht haben sie gearbeitet und Besuchern erscheint die Fertigstellung wie ein Wunder, es ist das Wunder von Mulatos. Am Eingang verkündet ein Schild „Willkommen im Friedensdorf Luis Eduardo Guerra“. Der Ort ist bereit für den Empfang von ca. 100 Pilgern, die hier oben im Februar 2010 am „Globalen Campus“ teilnehmen, eine internationale Universität, die von dem Friedenszentrum Tamera in Portugal gegründet wurde für die Ausbildung von Friedensarbeitern in aller Welt.

Was gab den Bewohnern von San José die Kraft für dieses Wunder von Mulatos, trotz der erlittenen Grausamkeiten durchzuhalten und in so kurzer Zeit ihr neues Zentrum zu errichten? Es war die Entscheidung, unter allen Umständen ein Zeichen für den Frieden zu setzen und für alle bedrohten Völker ein Modell zu schaffen für die Möglichkeit des Überlebens.

Martin Winiecki hat das Wunder von Mulatos mit eigenen Augen gesehen und erlebt.
Sein ganzer Bericht ist auf www.verlag-meiga.org nachzulesen.

Hintergrund:
San José de Apartadó liegt im Norden Kolumbiens, einem vielfach von Gewalt heimgesuchten Gebiet des Landes. Reich an Bodenschätzen und an landwirtschaftlicher Vielfalt, liegt sie strategisch wertvoll nahe an der Grenze zu Panama: eine Verbindungsregion zwischen Zentral- und Südamerika. Nordamerikanische Konzerne planen hier wirtschaftliche Großprojekte, um die Naturressourcen abzubauen, Agrarprodukte industriell anzubauen und zu verschiffen. Die in unmittelbarer Nähe geplanten Trockenhäfen („puertos secos“) gehören zu einem geostrategisch bedeutenden Verkehrskonzept: Eine Ergänzung zum Panamakanal, der Kolumbien den ersehnten wirtschaftlichen Aufschwung bringen soll. Seit Jahrzehnten geschehen unzählige Vertreibungen und Massaker an der Landbevölkerung, die den Plänen von Konzernen und Regierung mit ihrem bloßen Dasein im Wege stehen und vom Staat nicht geschützt werden. Die Geschichte der Region zeigt die erbarmungslose Gewalt, mit der die Globalisierung der Märkte heute in weiten Teilen der Erde durchgesetzt wird.

Vor diesem Hintergrund kamen einige Leiter der Gemeinde San José de Apartadó vor mehr als 13 Jahren zusammen, um darüber nachzudenken, was man tun könnte, um sich gegen die Vertreibung zu schützen. Gemeinsam mit Padre Javier Giraldo, der seit langer Zeit als kirchlicher Menschenrechtsaktivist viele verfolgte Aktivisten und Gemeinden in Kolumbien unterstützt, entstand der Gedanke, dass sie – wenn der Staat sie nicht beschützt und sogar an ihrer Bekämpfung teil nimmt – dann ganz austreten müssten aus diesem System. Sie entschlossen sich zur Gründung einer Friedensgemeinde, eines neutralen Dorfes, in dem die Bewohner gemeinsam gewaltfreien Widerstand leisten gegen Krieg aller Parteien.

Nach einem Höhepunkt der paramilitärischen Gewalt, im März 1997, kamen 1350 Campesinos der verschiedenen Weiler von San José de Apartadó zusammen und unterzeichneten die Gründungserklärung der Friedensgemeinde. Wer ihr beitritt, verpflichtet sich, mit keiner der Konfliktparteien zu kooperieren, keine Waffen zu besitzen, keine Drogen und keinen Alkohol zu konsumieren, sowie sich an den Gemeinschaftsarbeiten des Dorfes zu beteiligen. Für ihre Arbeit wurde die Friedensgemeinde San José de Apartadó 2007 mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet und im selben Jahr für den Friedensnobelpreis nominiert. Ihr Schutz besteht in der internationalen Aufmerksamkeit. In Spanien und Italien entstanden Solidaritätsnetzwerke. Menschenrechtsorganisationen wie „Amnesty International“ haben sich eingeschaltet, „Peace Brigades International“ und „Fellowship of Reconciliation“ sind seit vielen Jahren dauerhaft präsent und schützen die Menschen so gut sie können vor Angriffen.

Hintergrund Tamera:
Das Friedensforschungszentrum Tamera beruht auf einer radikalen, über 30-jährigen Forschungsarbeit für den Frieden. Dieter Duhm, einer der geistigen Anführer der 68er Studentenrevolution in Deutschland, war aus seinem bürgerlichen Leben ausgetreten, auch aus dem Marxismus, weil er an keiner Struktur mehr teilnehmen konnte, die auf Gewalt und Ausbeutung anderer beruht. 1978 kam er mit Sabine Lichtenfels und anderen zusammen, um ein neuartiges Projekt für einen anderen Gedanken der Revolution zu gründen. Sie wussten, dass Widerstand und politische Appelle allein den Krieg nicht beenden würden, sondern dass neue reale Lebenssysteme nötig sind. Sie wollten ein Friedensmodell aufbauen, das an keiner Stelle mehr auf Gewalt und Heuchelei beruht.

Sharing is Caring 🧡
Posted in Leben Verwendete Schlagwörter: ,

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Dein Kommentar wird nach der Prüfung freigeschaltet. Bitte beachte, Einschätzungen und Meinungen in Ich-Form zu formulieren und die AutorInnen zu wertschätzen. Nicht identifizierbare Namen (Nicknames), Kommentare ohne erkennbaren Bezug auf den Inhalt des Artikels und Links zu nicht eindeutig verifizierbaren Seiten bzw. zur Eigenwerbung werden grundsätzlich nicht freigeschaltet.