Wir sind Natur – was sonst?!

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Von Matthias Fersterer Erstmals wurden Flüsse zu juristischen Personen erklärt. Was ergibt sich daraus? – Zum Beispiel die Gelegenheit, uns von überholten Selbstbildern zu befreien.

Der Mystiker Meister Eckhart riet, die Menschen sollten nicht so viel darüber nachdenken, was sie tun sollen, sondern stattdessen bedenken, was sie sind. Nach 700 weiteren Jahren des Nachdenkens über Tun und Sein besteht weder in der einen noch in der anderen Frage Einmütigkeit. Was der Mensch tun solle und was er in Wirklichkeit sei, wird je nach Weltanschauung unterschiedlich beantwortet. Es gibt jedoch eine Erkenntnis, die so grundlegend, so einleuchtend, so radikal, so schlicht und so ergreifend ist, dass sie als größter gemeinsamer Nenner einer lebensfördernden, zukunftsfähigen menschlichen Kultur dienen kann: Ganz gleich, was wir Menschen sonst noch sein mögen, sind wir am Boden der Tatsachen natürliche Wesen in einer ­natürlichen Welt: Wir sind Natur.

Unsere Körper sind aus dem Stoff, aus dem das Leben gewirkt ist. Selbst zwischen den Genen einer Fruchtfliege und den unseren gibt es mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede. Alle Angehörigen des großen Haushalts Natur sind durch ein weitverzweigtes, eng verflochtenes Netzwerk aus gegenseitiger Abhängigkeit verbunden. Auch das Gebilde, das »ich« sagt und das ich »meinen« Körper nenne, umfasst mehr kooperierende Mitspieler, als es Sterne in der Milchstraße gibt. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich unser mit »Freiheit« verwechseltes Streben nach Unabhängigkeit und Individualität als Illusion.

Wenn wir anerkennen, dass wir Natur inmitten von Natur sind, kommen wir nicht umhin, unser Verhältnis zur nicht-menschlichen Natur zu überdenken. Dies mindert uns Menschen nicht herab, sondern erhebt uns auf eine gleichwürdige Stufe mit unseren Mitgeschöpfen. Wir befreien dadurch nicht nur unser Selbstbild, sondern auch unseren Blick auf das, was wir »Natur« nennen: Was bislang ausgebeutet, entrechtet und vernutzt wurde, wird zu einem mit Bewusstsein, Empfindungen und Rechten begabten Gegenüber. Dieser Perspektivwechsel ist ein emanzipatorischer Impuls. Historisch bezeichnet »Emanzipation« (­wörtlich: die Freilassung von in Besitz Ergriffenem) die Entlassung von Sklaven oder Kindern aus patriarchaler Gewalt, in jüngerer Zeit die gesellschaftliche (Selbst-)Befreiung der Frau. Der rechtliche Akt der Emanzipation setzt bei den Entrechteten wie den Entrechtenden Bewusstseinsprozesse in Gang, die nie nur in eine Richtung wirken: »Erst wenn ich bin, wie ich gemeint bin, kannst auch du sein, wie du gemeint bist – und umgekehrt«, drückte der Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. diese mehrfache Befreiung aus.

Flüsse erhalten Eigenrechte


Am 15. März 2017 verabschiedete das neuseeländische Parlament ein Gesetz, das den Whanganui, den längsten schiffbaren Fluss des Landes, mit Personenrechten ausstattet. Damit endet der langwierigste Rechtsstreit Neuseelands: Seit 140 Jahren hatten die Whanganui Iwi, die im Flussgebiet ansässigen Maori-Clans, gefordert, dass »ihr« Fluss als Lebewesen anerkannt werde. Fortan muss nicht mehr nachgewiesen werden, dass ein Mensch etwa durch die Verschmutzung des Flusses zu Schaden gekommen ist – der Fluss selbst hat einklagbare Eigenrechte.

Rund vier Jahrzehnte, nachdem der US-amerikanische Jurist Christopher Stone in einem wegweisenden Essay fragte »Haben Bäume Rechte?« und der Philosoph Hans Jonas in »Das Prinzip Verantwortung« ein Plädoyer für die Eigenrechte der Natur hielt, ist dieser Gesetzesakt nichts weniger als ein Meilenstein. Seit 150 Jahren werden Unternehmen Personenrechte zuerkannt – nicht aber Ökosystemen, Landschaften oder unserer Planetin als Ganzer. Zwar werden die Rechte der Natur in den Verfassungen Ecuadors und Boliviens aufgeführt, doch mit dem Whanganui wurde erstmals eine nicht-menschliche Entität als juristische Person anerkannt.

Nachahmer ließen nicht lange auf sich warten. Wenige Tage nach der Entscheidung des neuseeländischen Parlaments gewährte das höchste Gericht des nordindischen Bundesstaats Uttarakhand dem Ganges – dem längsten, dem im Glauben der Hindus heiligsten und dem am stärksten verschmutzten Fluss des Landes – und dessen Nebenfluss Yamuna unter Bezugnahme auf den Whanganui »den Status lebendiger und juristischer Personen«.

Wie aber können diese Rechte künftig wahrgenommen werden? In beiden Ländern wachen menschliche Vormünder über das Wohlergehen der Flüsse – in Neuseeland je ein Vertreter der Maori und der britischen Krone, in Indien ein Ökologe, ein Regierungsvertreter und der Generalanwalt. Die Geschichte der Sklavenbefreiung oder der Frauen- und Kinderrechtsbewegung zeigt, dass viele Jahrzehnte vergehen können, bis sich Rechtsakte auch nur annähernd erfüllen, indem sie in gelebter Praxis aufgehen. Kritiker halten es etwa für nicht praktikabel, die tagtäglich voranschreitende Verschmutzung des Ganges in naher Zukunft aufzuhalten.

Wer Eigenrechte der Natur nun für absurd hält, sollte sich vergegenwärtigen, wie abwegig ihrerzeit die Forderung nach gleichen Rechten für Frauen, Leibeigene, Menschen bestimmter Hautfarben oder Kinder auf viele Zeitgenossen gewirkt haben müssen. Nichtsdestoweniger markierten sie grundlegende Wendepunkte in den jeweiligen Wertesystemen.

Der neuseeländische Generalbundesanwalt Christopher Finlayson, der im Namen der Krone die Verhandlungen mit den Maori führte, bezeichnete das Urteil zu Recht als »historisches Ereignis«. Für die indigenen Bewohner trägt es hingegen etwas ganz Normalem Rechnung: In ihrer Sprache bezeichnen sie den Whanganui seit jeher als »Te Awa Tupua«, als Fluss-Ahnen, und besingen ihn als Teil ihrer selbst: »The river flows / From the mountains to the sea / I am the river / The river is me« – »Ich bin der Fluss. Der Fluss ist ich.« Das Denken der Maori kennt keine scharfe Trennung zwischen Menschenwesen und deren mehr-als-menschlicher Mitwelt. Mason Durie, ein Psychotherapeut mit Maori-Wurzeln, definiert Indigenität durch eine »dauerhafte Beziehung zwischen menschlichen Bewohnern, ihrem Lebensraum und natürlicher Umgebung«.

Indigene und westliche Traditionen
Westliches Eroberungs-, Verwertungs- und Eigentumsdenken könnten von einer solchen Haltung nicht weiter entfernt sein. Ist ein solcher indigener Naturzugang überhaupt mit westlichem Denken vereinbar? Der Maori-Abgeordnete Adrian Rurawhe deutet den »Te Awa Tupua Act« als Zeichen dafür, dass sich die Weltsichten der westlich geprägten Neuseeländer und der Maori langsam annähern. Immerhin war es uns Menschen während des Großteils unserer Geschichte gar nicht möglich, uns als etwas anderes als dem Land Eingeborene zu empfinden. Und auch in westlich geprägten Kulturen gibt es Traditionslinien, in denen sich Menschen nicht als Beherrscher, sondern als integraler Teil der Natur begreifen:
In seinem Buch »The Magna Carta Manifesto« beschreibt der Historiker Peter Linebaugh die Commoners des englischen Hochmittelalters als Menschen, die sich weniger als Untertanen wechselnder Landesherren verstanden, sondern als Angehörige des Landes, das sie bewirtschafteten. Sie fragten sich: Wie will es bestellt werden? Verlangt es nach Düngung? Was wächst darauf? Die Nutzungsrechte der Commoners leiteten sich nicht aus Eigentum ab, sondern aus der Zugehörigkeit zu Äckern, Wäldern, Gewässern, die sich wiederum aus gemeinschaffender, pflegnutzender Arbeit ergab. Diesen vergessenen oder verfemten Strang unserer Geschichte macht die gegenwärtige Renaissance der Allmende wieder sichtbar, auch wenn geeignete Rechtsformen noch fehlen und sich privatrechtliches Eigentums- und pflegnutzendes Zughörigkeitsdenken diametral entgegenstehen.

Farmer und Poet Wendell Berry erzählt in seinen Gedichten und Essays davon, wie er über die Jahre zum eingeborenen Teil seines Hanggrundstücks in Kentucky und wie dieses deckungsgleich mit seinem literarischen Thema, seinem Sujet wurde: »Inzwischen bin ich in meinem Sujet zu Hause. Mein Sujet ist mein Platz in der Welt, und an meinem Platz lebe ich.« Diese Haltung ist bemerkenswert, weil sie eine natürliche Qualität in die menschliche Sphäre trägt: In der nicht-menschlichen Natur gibt es nichts anderes als völlige Kongruenz, völlige Übereinstimmung zwischen Sein, Tun und Mitwelt. Die konsequente Pfleg- und Hüterschaft für einen Ort an den Rändern unseres zivilisatorischen Treibhauses zu übernehmen – und sei es der Balkon eines Plattenbaus –, schafft Verbindung zu unserem eigenen Natursein. Die bäuerliche Landwirtschaft ist nicht der einzige, aber der vielleicht wichtigste in der menschlichen Kultur gewachsene Ausdruck dieser Verbundenheit.

Bei den Protesten um den Pariser Klimagipfel 2015 demons­trierten Aktivistinnen und Aktivisten mit dem Slogan: »Wir kämpfen nicht für die Natur. Wir sind Natur, die sich selbst verteidigt!« Sie pinselten ihr Selbstverständnis auf Transparente, setzten es auf Websites, druckten es auf Plakate und ließen es als Moosgraffitti an Hauswänden sprießen. Neben westlichen Umweltorganisationen mit überwiegend jungen Protestierenden wurde der Widerstand gegen laue Klimakompromisse vor allem durch Abgesandte indigener Völker vorangetrieben. Hat der neuseeländische Abgeordnete ­Rurawhe recht? Bewegen sich indigene und westlich geprägte Welt­anschauungen aufeinander zu? Kann aus diesem Widerstand, der sich derzeit noch wie ein Tropfen auf dem heißen Stein anfühlen mag, ein kraftvoller Strom werden? Und können aus solchem Widerstand lebenspraktische Alternativen erwachsen?

Das Edaphon als Rechtsperson?
Ich lebe in der Gegend mit den größten zusammenhängenden Ackerflächen Deutschlands. Auf Böden, die in Fruchtbarkeitspunkten gemessen an Wüsten grenzen, standen auch im vergangenen Jahr kilometerweit Maisstauden. Inzwischen sind die starkzehrenden Pflanzen abgeerntet, die Böden totgespritzt und gegrubbert. Auf den nackten Feldern, die sich leer wie Mondlandschaften bis zum Horizont erstrecken, wurden Hunderte Sattelschlepperladungen Spülschlamm aus der Zuckerfabrik zu Hügelketten aufgehäuft. Diese werden auf den kargen Böden planiert, damit dort auch in der kommenden Saison perfekte Monokulturreihen stehen können. Die Reifenprofile der schweren Lkw und Ackerschlepper haben im verdichteten Boden tiefe Abdrücke hinterlassen, in denen sich der ­Regen der vergangenen Tage in schlammigen Pfützen sammelt.

Solche Szenen sind symptomatisch für ein krankendes, nicht-nachhaltiges System in all seiner Widersprüchlichkeit: Fruchtbarkeit wird aus dem Boden herausgepresst, notdürftig zurückgefüttert und mit Kunstdüngern und Pestiziden angereichert, um den Schein von Lebendigkeit zu wahren. Obwohl all dies im Rahmen geltender Gesetze und »guter fachlicher Praxis« geschieht, komme ich nicht umhin, mich als Zeuge eines Unrechts zu fühlen. Aber wem genau wird dieses Unrecht angetan? Den anwohnenden Menschen und Tieren, deren Lebensraum zerstört wird? Den künftigen Genera­tionen, an deren Lebensgrundlage Raubbau betrieben wird? Der ­Gesamtheit des Bodenlebens?

Die Gemeinschaft aus kleinen und kleinsten ­Bodenlebewesen, die in einer Handvoll gesunder Ackerkrume zahlreicher als die gegenwärtige Menschheit sind, hat der Mikrobiologe Raoul Heinrich Francé als »Edaphon« bezeichnet. Wie in einem Nachklang auf Meister Eckhart beschrieb Francé die Arbeit mit Boden, Schlamm und Mist als »Mahnung, daran zu denken, was wir eigentlich sind«. So wie ein Mensch stellvertretend für das Biotop, das er in und um sich trägt, Bürger- und Freiheitsrechte zuerkannt bekommt, könnte dieses »Bodenlebewesen« Träger von Rechten sein – zum Beispiel des Rechts auf körperliche Unversehrtheit, auf Wahrung natürlicher dynamischer Kreisläufe und auf Erhalt seiner Lebendigkeit. Wie aber ließen sich solche Rechte einfordern? Durch menschliche Stellvertreter auf dem Klageweg? Wer wären die Beklagten? Der ­agrarindustrielle Konzern, der nach geltendem Gesetz kein Unrecht begeht? Die Politiker, die den gesetzlichen Rahmen verantworten? Die Menschen, die das System durch ihr Konsumverhalten mittragen oder nicht laut genug dagegen aufbegehren? Und wie sähe eine Kompensation für unwiederbringlichen Verlust aus?

Natur? Natürlich!
Nach Jahrzehnten holistischer Forschung in den Natur- und Systemwissenschaften, nach Gaia-Theorie, schöpferischer Biologie und Tiefenökologie ist der Schritt, uns selbst als Naturwesen anzuerkennen, gar nicht mehr so groß. Nur, was folgt daraus? Wenn wir anerkennen, dass wir selbst Natur sind, wirken wir der hochmütigen Annahme entgegen, dass wir Menschen die Krone der Schöfpung seien (Anthropozentrismus), und geben uns zumindest die Chance, nicht nur uns, sondern auch unsere Mitgeschöpfe als das zu erkennen, was sie sind, ohne ihnen auf anmaßende Weise menschliche Kategorien überzustülpen (Anthro­pomorphismus). Eine solche Haltung ist die beste Grundlage für eine menschliche Kultur, in der sich gemeinschaffendes Pflegen und bedürfnisorientiertes Nutzen nicht aus Eigentum, sondern aus Zugehörigkeit und verwandtschaftlicher Beziehung ableiten. Sind wir bereit, die vermeintlichen Privilegien menschlicher Exklusivität aufzugeben und den uns gemäßen Platz im Netzwerk Natur neu zu finden? Eine solche Haltung wird unser ganzes Sein und Wirken bis hin zu unserer Gesetzgebung verändern.

Mich hat sie schon verändert. Zumindest in diesem Augenblick empfinde ich mich als Natur, die Hosen und Schuhe trägt, die in der Fülle der zwitschernden Vogelstimmen badet, den süßlich-mehligen Geruch der Forsythienblüte wittert, innerlich gerade vor der Erschütterung der vorbeidonnernden Landmaschine zusammen­gezuckt ist und just in diesem Moment die Augen zusammenkneift, um im Gegenlicht der hervorblinzelnden Frühlingssonne diese Worte mit Hilfe von künftigem Elektronikschrott aufzuschreiben. Und was folgt nun daraus? Geht die Veränderung weit genug?

Aus: Oya, Ausgabe 43, Mai/Juni 2017
www.oya-online.de

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