Es braucht ein ganzes Dorf, um alt zu werden

Foto Kiss Fondation

Den Satz „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind aufzuziehen“ von Sobonfu Some kannte ich schon lange. Jetzt wurde es durch einen Ansatz für eine gemeinsame dezentral organisierte Altervorsorge erweitert. In der Schweiz gibt es dafür ein Genossenschaftsmodell: Kiss (Keep it small and simple).

Daniel Schläppi hat dazu in der OYA 56/2019 dazu geschrieben:

Ich finde diese Basisbewegung faszinierend, die in der Schweiz gerade Fahrt aufnimmt und neue Wege in der Altenpflege beschreitet. Die Rede ist von »Kiss« (»Keep it small and simple«), einem Verbund eigenständiger Genossenschaften, die sich aus sozialen Netzwerken vor Ort formieren. Ihre Mitglieder erbringen freiwillig und ohne Bezahlung Unterstützungsleistungen für Betagte und Bedürftige. Als Gegenleistung bekommen sie die aufgewendete Zeit gutgeschrieben, die sie irgendwann beziehen können, wenn sie selbst Bedarf nach Leistungen haben. Auf der Grundlage von Vertrauen in die langfristige Tragfähigkeit der Gemeinschaftsprojekte sind Geben und Nehmen in diesem System nicht mehr an enge Tauschbeziehungen gekoppelt.

Diese Art der Zeitvorsorge ist nicht neu und wird etwa in Japan seit Jahrzehnten praktiziert. Bei herkömmlichen Zeitbanken bilden Trägerschaften finanzielle Reserven, um für angesparte Zeit zu garantieren. Kiss-Mitglieder, das sind schweizweit gut 1000 Menschen, hingegen engagieren sich in ihren Organisationen ohne gesicherten Anspruch darauf, ihre persönlichen Guthaben einzulösen. »Na und?«, werden manche sagen – und dabei übersehen, welch ein starker Impuls zu gesellschaftlicher Transformation von institutionell gefasstem Gemeinschaftshandeln ausgeht, wenn individuelle Nutzungsinteressen in den Hintergrund treten. Im Licht der Geschichte von Kiss wird deutlich, welch fundamentaler Wandel sich dort manifestiert.

Eine Werteordnung für gemeinschaftliches Gedeihen

Mit Blick auf die Zukunft ist nun entscheidend, dass Kiss-Genossenschaften als selbstbestimmte Gruppen eine fundamental neue Werteordnung (vor)leben. Die Gründerorganisationen wollten lediglich durch generationenübergreifende Nachbarschaftshilfe Unterstützung in Notsituationen bereitstellen. Bereits in der Pionierphase wurde deutlich, dass die Stundenprotokolle als Ausweis und Anerkennung für geleistete Arbeit durchaus bedeutsam waren, wenn auch nicht für alle Beteiligten in gleichem Maß. Die meisten Mitwirkenden schöpfen ihre Motivation nämlich nicht aus abstrakter Gegenseitigkeit mit Blick auf späteren Nutzen, sondern aus den in der Praxis entstehenden Beziehungen und Bindungen, die sie als bereichernd erfahren. Gemeinwerk und Solidarität bedürfen keiner affektiven Nähe. Umso bemerkenswerter ist es, dass bei Kiss aus einseitiger Hilfe gegenseitiger Austausch, aus Abhängigkeit emotionale Nähe wird. Anders als bei Pflegeleistungen nach Tarif sind Geben und Nehmen nicht mehr klar zugeschrieben, verfließen stattdessen zu gedeihlichem Miteinander und stärken die lokalen Beziehungsnetze.

Dank Commoning – eigenverantwortlichem, zwanglosem Zusammenwirken Vieler – erübrigt sich ein aufwendiger administrativer Apparat.Für Buchführung, Beratung, Zusammenstellung der Pflegetandems sowie die Begleitung beim ersten Zusammentreffen und eine rudimentäre Qualitätssicherung reicht vor Ort eine hauptamtliche Koordinatorin. Monatliche Kiss-Treffs dienen dem Austausch zwischen Engagierten und neuen Interessierten und geben den Organisationen, die ihr Alltagswerk unauffällig im Hintergrund verrichten, ein Gesicht. Darüber hinaus haben sie Ritualcharakter und erinnern daran, dass jede einzelne Handlung in ein gemeinschaftliches Ganzes eingebettet ist. Anders als bei historischen Commons tritt bei Kiss der konkrete Nutzen an einem Gemeingut als Treib- und Bindekraft in den Hintergrund, weil die dort aktiven Menschen gar nicht wissen, wann und wie genau die »Gegenleistung« stattfinden wird. Entsprechend niedrigschwellig ist der Zugang. Bei den Genossenschaften melden sich Menschen aus allen Bereichen und sozialen Schichten der Gesellschaft an. Sie möchten Verantwortung für ihr Alter übernehmen. Die Zeit, die sie bei Kiss einsetzen, bleibt überschaubarer als bei einem klassischen freiwilligen Ehrenamt. Ohne dass sich das jemand ausgedacht hätte, wird in einfachen, geldfreien Praktiken der »Homo oeconomicus« vom »Homo cooperans«, vom kooperierenden Menschen, abgelöst. Aber damit nicht genug: Das Wirken von Kiss repariert die Kollateralschäden einer durch und durch individualisierten Gesellschaft. Längst weist die Gerontologie auf das Leid und die Kosten hin, die Alterseinsamkeit verursacht. Familiäre Bindungen und Verpflichtungen sind in den letzten Jahrzehnten erodiert, der motorisierte Privatverkehr hat Begegnungsräume in Dörfern und Stadtteilen zerstört. Viele Menschen kennen nicht einmal mehr ihre nächsten Nachbarn.

Hier setzt Kiss an und definiert die »Nachbarschaft« – auch sie neben »Körper-« und »Genossenschaft« eine Jahrhunderte alte soziale Erscheinung – als Organisations- und Kontrollraum, denn wechselseitige Hilfe lässt sich in überschaubaren Gruppen oftmals nachhaltiger und solider verankern als in verwandtschaftlichen Zwangsbeziehungen – traditionellerweise zwischen bedürftigem Elternteil und pflegender (Schwieger-)Tochter. Dann kann bei Ausfällen spontan und unbürokratisch für Ersatz gesorgt werden. In der Zusammenarbeit von Menschen, die sich kennen und begegnen, wird unwillkürlich Wissen kommuniziert, konzentriert, konserviert und potenziert. Das Gefühl, in einer beständigen Werte- und Handlungsgemeinschaft aufgehoben zu sein, trägt wesentlich zum Wohlbefinden, zur Lebensqualität und damit zur Gesundheit bei – dies nicht zuletzt, weil in der Nachbarschaftshilfe die positiven Effekte des eigenen Mitwirkens unmittelbar sicht- und spürbar sind.

Die genannten Vorzüge verdanken sich dem Umstand, dass Kiss-Organisationen über eine institutionelle Rahmung verfügen. Obwohl diese minimal ist, hilft sie zurückgezogenen Menschen mit ausgeprägtem Sicherheitsbedürfnis, denn solche würden aus dem trügerischen Schutz der Privatsphäre heraus unmöglich den Schritt in täglich neu improvisierte, informelle Spontangemeinschaften wagen. Doch »wenn da keiner mehr ist, den man kennt, wächst die Bosheit des Einsamen«, und »Anonymität lässt jede Höflichkeit verschwinden«, heißt es bei der Gesellschaftskritikerin Sibylle Berg. So gesehen, verändert Kiss die Menschen. Dank gesellig gestalteter Alltagsroutinen können isolierte Weltfremde plötzlich wieder den regelmäßigen Kontakt zu anderen Menschen üben und so neue Bekannte und Freunde finden.

Institutionen für kleine Beiträge

Die beschriebenen Organisationen sind überschaubar, einfach und wirkungsvoll. Viele kleine Einheiten können große Reichweite entfalten, ohne dass dazu eine übergeordnete Großorganisation erforderlich wäre. Der Verein Kiss unterstützt Personen und Organisationen, die Kiss-­Genossenschaften aufbauen möchten. Eine Geschäftsstelle hilft mit Erfahrungswissen und achtet darauf, dass die Eckwerte des Modells Kiss eingehalten werden. Die lokalen Initiativen fällen die sie betreffenden Entscheidungen aber autonom. Die neu gegründete Stiftung bezweckt, das Modell Kiss einheitlich und vernetzt schweizweit umzusetzen.

Im Gegensatz zu rigiden körperschaftlichen Konstrukten alten Musters passt Gemeinschaftshandeln mit wenig institutionellem Überbau in individualisierte Gesellschaften, die Selbstbestimmung großschreiben. Freiheitlich denkende Menschen wollen nicht in Zwangsgemeinschaften mit rigorosen Regeln genötigt werden. Mitmachen soll freiwillig sein und Freude bereiten. Gemeinschaffen wird als Bereicherung individualisierter Lebensentwürfe erfahren, wenn über die Intensität der Bindungen autonom entschieden werden kann.

Pluralistisch organisierte Kollektive sind kreativ genug, um die Spannung zwischen privatem Unabhängigkeitsstreben und der Einbindung in Gruppenstrukturen aufzulösen. Weltweit entstehen heute zahlreiche Initiativen, die altbewährte Allmende-Logiken anwenden, gleichzeitig aber neue Praktiken des Gemeinschaft­lichen, des Commonings, erfinden und erleben.

Daniel Schläppi (51) praktiziert Commoning als Genossenschaftler, Jazz-Musiker und im Familienhaushalt.

Den ganzen Artikel in der OYA  lesen hier.

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www.kiss-zeit.ch
www.fondation-kiss.ch

Sich einlesen
Sibylle Berg: GRM. Brainfuck, Kiepenheuer und Witsch, 2019; ­
Susanna Fassbind: Zeit für dich – Zeit für mich. ­Nachbarschaftshilfe für Jung und Alt, Rüffer und Rub, 2017;
Heidi Lehner und Jürg Conzett: Zeit macht reich. ­Nachbarschaftshilfe mit Zeitgutschriften, ­Conzett Verlag, 2017.

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2 Kommentare zu “Es braucht ein ganzes Dorf, um alt zu werden
  1. Gabriele sagt:

    Vielen Dank,

    das ist ein wahrer Hoffnungsfunke, der auf zwei Beinen steht.
    Ich werde mich gleich daran machen, diese Idee auch hier Wirklichkeit werden zu lassen, was für eine gute Idee dieses Vorbild hier einzustellen.

    Liebe Bettina, du bist wirklich ein Schatz, diese supergute und oberwichtige Nachricht hier zu verbreiten ist eine echte Pippi-Tat!!!
    🤗

  2. Saran Lauwers sagt:

    Nur so geht es in unserer neuen Welt: mit Liebe und Engagement. Wir sind 1. Du bist ich und ich bin du. So ham. Ich bin.

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