Mut zum Lebenswandel: Chancen der Biografiearbeit

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Brigitte Hieronimus arbeitet seit vielen Jahren als Paar- und Biografieberaterin. Immer wieder hat sie Menschen dabei geholfen, ihren Weg zu finden. Im Interview spricht sie darüber, wie eine neue Sichtweise auf die eigene Vergangenheit unser heutiges Leben verändern kann.

Frau Hieronimus, Sie sind Biografieberaterin und Coach. Wie haben Sie die Biografiearbeit für sich entdeckt?

Im Grunde habe ich es meinen Wechseljahren zu verdanken. Ich habe diese Zeit nicht nur als körperliche Veränderung erlebt, sondern vor allem als Wandel in meinen wichtigsten Lebensbereichen. Die Wechseljahre haben mich so sehr fasziniert, dass ich mich in der Schweiz (Frauenseminar Bodensee bei Julia Onken) zur Seminarleiterin ausbilden ließ.

Im Laufe der Jahre fiel mir immer wieder auf, dass die Ursache der meisten wechseljährigen Symptome und Störungen auch mit der eigenen Biografie zu tun haben. In den Gesprächen mit Frauen ging es immer auch um ihre aktuelle Lebenssituation und deren Belastungen. Nach meinen Wechseljahren lernte ich einen Mann kennen, der sich für Biografiearbeit interessierte und so haben wir uns zusammen dazu ausbilden lassen. Seit vielen Jahren begleite ich nun Menschen zu ihren Lebensfragen und durch sämtliche Lebensabschnitte.

Brigitte Hieronimus

Von welchen positiven Erfahrungen berichten Ihnen Ihre Klienten, wenn sie anfangen ihre Lebenskrisen und Lebensübergänge biografisch aufzuarbeiten?

Die meisten Klienten kommen zur Beratung, wenn sie um die 40 sind. Das ist die Zeit des inneren Wandels wo es darum geht, übernommene Wertemuster zu hinterfragen und das Leben neu in die Hand zu nehmen. Partnerschaft und Beruf stehen auf dem Prüfstand, Kinder werden selbstständiger und machen ihr eigenes Ding, die Beziehung zu den alt werdenden Eltern, Geschwistern und Freunden gestaltet sich schwierig , Hobbys machen weniger Freude, die Kollegen sind nervig. Gleichzeitig steigt die Lust, etwas Neues zu tun, aus der Reihe zu tanzen oder eine Auszeit zu nehmen. Es ist tatsächlich eine Zeit des Umbruchs und Aufbruchs zu neuen Ufern.

In der biografischen Arbeit finden die Menschen wieder zu dem zurück, was sie vernachlässigt, aufgegeben oder übersehen haben und setzen es neu um. In den meisten Biografien finden sich Entwicklungs-Staus aus der frühen Kindheit und Jugend. Das ist der Grund vieler Krisen, die sich auflösen, sobald die Wurzel des Problems bekannt ist. Die Klienten fühlen sich sofort erleichtert, weil es nicht um Schuld geht und finden mit großer Klarheit zur Neuorientierung.

Wieso kann es für einen Menschen hilfreich sein, die Biografie der Eltern, Großeltern und manchmal sogar der Ur-Großeltern zu durchforsten? Welchen Einfluss hat das Leben der Vorfahren auf das eigene Leben?

Das ist ein großes Thema von unermesslicher Bedeutung für eine gelingende Gestaltung des eigenen Lebens. Wir wissen inzwischen viel mehr über die Kriegstraumata der Eltern und Großeltern. Unverarbeitete Existenz- und Verlusttraumata werden als Zellinformation gespeichert und genetisch an die nächste Generation weiter vererbt. Ich habe keine einzige Biografie gefunden, wo es keine Gewalt, keine Misshandlungen und Missbrauch in der Ahnenreihe der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern gab. Dieses Wissen und Erkennen ist für die Klienten notwendig, damit sie ihre eigenen Ängste richtig einordnen und überwinden können.

Angst und Panikgefühle werden in der Regel von der Mutter auf das Kind übertragen und so wird schon das Ungeborene darin verstrickt. Man muss sich nur mal vorstellen, was eine schwangere Mutter in Kriegszeiten durchmacht, wo es nur um das nackte Überleben geht, die Angst um sich und das Ungeborene, Angst vor Hunger, Kälte, Bomben und Vergewaltigung. Das ist einfach nur grausam! Das Kind, das dann geboren wird, erlebt eine Mutter, die emotional nicht wirklich erreichbar ist, die sich ständig sorgt und panisch reagiert, weil sie vor allem Angst hat.

Traumagefühle sind in der Regel psychisch abgespalten und werden als Notfall durch Überlebensmuster überdeckt. Das ist zunächst eine psychische Schutzfunktion, die sich später als dysfunktional erweist. Die Kriegsgeneration hat aus den Trümmern des Krieges etwas Neues aufgebaut, jedoch hat sie es nicht schaffen können, ihre seelischen Trümmer zu beseitigen. Das ist der Grund warum sich jetzt immer mehr Menschen aus der Nachkriegsgeneration darum kümmern.
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Unverarbeitete Existenz- und Verlusttraumata werden oftmals an die nächste Generation weiter vererbt.

Wie kann ich einen angemessenen Umgang mit unverarbeiteten Ereignissen innerhalb meiner Biografie finden?

Die Biografiearbeit, so wie ich damit arbeite, beinhaltet immer auch eine Traumazuordnungsarbeit. Es ist also nicht immer eine langjährige Therapie nötig, um diese Ereignisse zu verarbeiten, denn das Aufdecken der Generationsübergreifenden Traumata ist der wichtigste Schritt auf dem Weg der Salutogenese (der Gesundheitsentstehung).

Es geht zunächst um das eigene Verstehen, um eigene Handlungsfähigkeit und um eigene Sinnhaftigkeit. Die Kette der dysfunktionalen Muster wird damit unterbrochen. Daraus kann Einsicht in das eigene Verhalten erfolgen, was zu gewünschten Ergebnissen führt. Es braucht natürlich Mut und Beharrlichkeit und genügend Motivation, sich mit seiner Lebensgeschichte auseinander setzen zu wollen. Der Gewinn ist ein Leben ohne Verstrickungen und bietet die Chance, frei zu werden für das, was einem am Herzen liegt.

Welche Chancen bietet das biografische Schreiben?

Das biografische Schreiben dient zum einen der Erinnerungsarbeit und fördert Vergessenes zutage. Zum anderen bietet es die Gelegenheit, sich schreibend aus belastenden Situationen zu befreien, zu reflektieren, zu analysieren und eine neue Sichtweise zu entwickeln. Oft sind es die unverdauten Ereignisse, die ein großes Potential an Kreativität und Entwicklungsmöglichkeit in sich tragen. Schreiben ist ebenfalls ein Weg der Salutogenese, weil es die psychische Gesundheit unterstützt. Ältere Menschen schreiben deshalb gerne an ihrer Freudenbiografie, die das ganze Leben mit ihren Höhen und Tiefen im Blick hat. So finden diese Menschen zu einem versöhnlichen Lebensrückblick.

In Ihrem Buch Mut zum Lebenswandel teilen Sie die Lebensabschnitte in Jahrsiebte ein, nicht in Jahrzehnte. Welchen Grund hat das?

Ursprünglich kommt die Biografiearbeit aus der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners, der aufgrund seiner Forschungen herausgefunden hat, dass in jedem Jahrsiebt eine neue Lebensaufgabe steckt. Es geht dabei um körperliche, seelische und geistige Reifestufen, die es nach und nach zu entwickeln gilt.

Im ersten Jahrsiebt (Geburt bis 7 Jahre) geht es beispielsweise vor allem um Fürsorge und Schutz, die dem Kind gewährt wird, es geht um gesunde Bindung und Entfaltungsmöglichkeiten, und um die Welt des Spiels. Im zweiten Jahrsiebt (7 – 14 Jahre) geht es um den kindlichen Wissensdurst, um die Erweiterung seines sozialen Umfeldes und den Umgang mit Autoritäten. Wir reifen gesund heran, wenn es keine problematischen Störungen gibt.

Doch in der Realität gibt es kaum ein Jahrsiebt, das ohne Störungen verläuft. Das Grundbedürfnis Bindung und Sicherheit ist z.B. ein sehr störungsanfälliger Bereich. Hat eine Mutter aufgrund eigener Verlusttraumata keine gesunde Bindung erlebt, ist sie oft nur schwer in der Lage, eine stabile Bindung zu ihren Kind aufzubauen, was wiederum dazu führt, dass ihr Kind später zu Bindungsstörungen in Partnerschaften neigen kann. Rudolf Steiner hat ein „Idealbild“ entworfen und wollte aufzeigen, welche Rahmenbedingungen es braucht, um sich gesund zu entwickeln. Ich habe die Biografiearbeit pragmatisch und lebensnah aufgebaut, welche die Trauma-Arbeit beinhaltet.

Ein Kapitel Ihres Buches heißt Problemkinder haben Problemeltern. Wie wirkt sich eine problematische, ungeklärte Biografie auf den Nachwuchs aus?

Die Liebe eines Kindes zur Mutter und später zum Vater ist die stärkste Kraft die es gibt. Kinder tun alles, um Eltern nicht zu enttäuschen. Kinder fühlen, wenn es der Mutter nicht gut geht, wenn der Vater ein Problem hat und sie versuchen je nach Alter, ihre Eltern zu unterstützen, sie zu retten und ihnen zu helfen, weil die Eltern ihre Probleme nicht lösen und überfordert sind. So kehren sich die Rollen um, was fatale Folgen für die kindliche Entwicklung hat.

Diese Kinder können im erwachsenen Leben nicht unterscheiden, was ihre eigenen Gefühle und die der anderen sind. Sie wissen was andere brauchen, aber nicht was sie selber brauchen. Je früher ein Kind spürt, dass es die Liebe der Mutter – und später die des Vaters – nicht bekommt, desto problematischer wird das Kind sich gebärden. Bindung und Zugehörigkeit bleibt aus diesem Grund oftmals lebenslang ein problembeladenes Thema.

Sie schreiben, der Übergang in die Lebensstufe Alter gehöre zu den intensivsten, ja sogar radikalsten, innerhalb eines Lebens. Warum ist gerade diese Veränderung so einschneidend?

Mit dem Älterwerden gehen bestimmte Lebensaufgaben definitiv zu Ende, doch die Auswirkungen sind vielen nicht bekannt. Manche sind zunächst froh, wenn die Berufstätigkeit endet oder die Kinder flügge geworden sind. Jetzt können sie endlich tun wonach es ihnen gelüstet. Doch irgendwann stellen sie fest, dass sie damit eine innere Leere übertünchen. Diese Leere ist es aber, die mit etwas ganz Neuem gefüllt werden will. Das geht nicht von heute auf Morgen.

In dieser Lebensstufe geht es um den geistigen Sturm und Drang für das eigene Leben. Doch dafür müssen sich ältere Menschen aus ganzem Herzen für etwas begeistern wollen. Viele führen das weiter, was sie immer schon getan haben: Sie reisen mehr, sie pflegen ihre Hobbys, sie opfern sich noch mehr für die gebrechlichen Eltern, oder sie kreisen um ihre eigenen störenden Befindlichkeiten, für die sie jetzt auch mehr Zeit haben. In der Lebensstufe Alter geht es aber darum, sich noch einmal ganz neu auszurichten und dem Leben einen neuen Sinn zu geben.

Welche besonderen Chancen bietet die Lebensstufe Alter ihrer Meinung nach?

Gerade meine Generation hat mehr Chancen als die Generationen vor uns. Wir können uns auf vielfältige Art und Weise von den übernommenen emotionalen Altlasten und Traumata befreien. Jetzt ist noch genügend Zeit für den psychischen Hausputz. Nach 70 nimmt bei vielen die psychische Vitalkraft merklich ab. Deshalb bietet die Zeit zwischen 50 und 60 die größte Möglichkeit, sich darum zu kümmern, damit das Leben nicht im Lebensüberdruss und Verbitterung endet.

Vielen steht auch unbewältigte Trauer im Weg, die den Lebensfluss behindert. Die Lebensstufe zwischen 60 und 70 beinhaltet die Aufgabe, zur inneren Güte und reifen Liebe zu finden. Das bedeutet auch, sich für die Gedanken der jungen Generation zu interessieren, sie zu fördern und mit Lebenserfahrung zu begleiten. Es bedeutet auch, alles was dauerhaft echte Freude und Sinn macht, auch zu tun.

Kann man die weit verbreitete Angst vor dem Alter durch Biografiearbeit mindern und nachvollziehbarer machen?

Wir müssten uns zuerst fragen, was dieser Angst zugrunde liegt. Von wem haben wir das Bild des alternden Menschen? Welche alten Menschen haben uns geprägt? Waren sie einsam, verbittert, gebrechlich und mutlos oder waren sie vital, zuversichtlich, humorvoll und agil?

Und da haben wir auch schon die Antworten. Wir schauen auf das, was wir mit alten Menschen erlebt oder über sie erzählt bekommen haben. Altern wir selbst, sind wir selber Pioniere, die ein noch unbekanntes Land betreten. Jeder Mensch altert individuell. Im Grunde ist die Angst vor dem Altwerden die uneingestandene Furcht noch nicht alles gelebt zu haben, die Angst, dass die Zeit nicht mehr ausreicht. Biografiearbeit ab 60 wäre deshalb ein kluger ‚Geheimtipp‘ für ein gelingendes und umsetzbares Lebenskonzept im Alter.

Sie berichten von dem plötzlich aufkeimenden Drang, im Älterwerden mit jemandem aus dem eigenen Umfeld reinen Tisch zu machen. Welche Arten von Konfrontation halten Sie für gesund und konstruktiv? Welche für irreführend?

Es gibt nicht wenige Menschen im Alter, die auf einem Kränkungsberg hocken und nicht mehr davon herunter steigen. Viele haben Enttäuschungen nicht überwunden und finden keine Wege, sich davon zu befreien. Forschen wir gemeinsam nach, findet sich auch hier der Ursprung in der eigenen Biografie. Wer schon in der frühen Kindheit von den wichtigsten Vertrauenspersonen verletzt wird, fühlt sich verraten und enttäuscht. Diese Verletzungen können in der Kindheit nicht verarbeitet werden, weil die Bindung zu den Vertrauenspersonen stärker ist. Verletzende Erfahrungen prägen sich neuronal ein und hinterlassen Spuren im episodischen Gedächtnis, d.h. alles, was sich im späteren Leben so ähnlich abspielt wie in der Kindheit, wird als weitere Kränkung abgespeichert.

Es gibt ein Schmerzgedächtnis, das nichts vergisst. So entsteht ein Reiz-Reaktionsmuster, d.h. der Impuls, mit jemanden abrechnen zu müssen – auch wenn er nichts mit der Ursprungsgeschichte zu tun hat – ist stärker, als der Wunsch nach Aussöhnung mit der eigenen Lebensgeschichte. Ich habe rasch herausgefunden, dass die meisten Paarprobleme ihren Ursprung in der biografischen Kränkungsgeschichte haben. Seitdem arbeite ich mit den Paaren gemeinsam oder getrennt an ihrer Biografie, was zu außergewöhnlich guten Ergebnissen führt. Konstruktiv ist daher die Arbeit an der persönlichen Geschichte. Irreführend ist der Glaube, dass sich erst die Anderen und die Umstände ändern müssen.

Was gibt Ihnen persönlich Kraft und Motivation, wenn Sie das Altern im Körper mal unangenehm spüren?

Ich habe dem Altwerden des Körpers manchmal lächelnd und manchmal bedauernd zugeschaut. Graue Strähnen im Haar gefallen mir. Locker werdende Zähne weniger. Es sind die Zipperlein die sich mildern oder verstärken. Gerade jetzt habe ich Knieprobleme, die mich dazu bringen, mich mehr zu bewegen. Ich war ein lebhaftes Kind, das viel draußen war. Heute habe ich ein lebhaftes Temperament und einen beweglichen Geist, doch ich habe eine Tätigkeit, wo ich zu viel sitze. Meine Kniebeschwerden weisen mich also darauf hin, auch körperlich wieder beweglicher zu werden. So habe ich mit Yoga angefangen, was ich niemals in Betracht gezogen hätte.

Die Motivation, meinen Körper so weit als möglich beweglich zu halten, ist eine der vielen Kraftquellen in meinem Leben. Eines ist mir dadurch bewusst geworden. Selbst wenn ich im Rollstuhl sitzen würde, könnte ich immer noch meine Tätigkeit ausüben. Die Biografiearbeit und die fruchtbaren Gespräche mit den unterschiedlichsten Menschen halten meinen Geist beweglich.

Frau Hieronimus, vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person: Brigitte Hieronimus arbeitet als erfahrene Paar-und Biografieberaterin, Trainerin, Referentin zum Thema Wechseljahre und Dozentin für biografisches Schreiben. Der Autorin gelingt es auf lebendige Weise, den Lesern eine mutmachende neue Sichtweise zu vermitteln. Daher ist sie immer auch gefragte Interviewpartnerin in TV, Hörfunk und Presse. Mehr auf ihrer Webseite www.brigitte-hieronimus.de

 

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Ein Kommentar zu “Mut zum Lebenswandel: Chancen der Biografiearbeit
  1. Naras. sagt:

    Stimmt Alles, Brigitte.
    Gesund zu bleiben von Körper, Geist und Seele ist wichtig.
    Und zu wissen, was von Mir ist, wer Ich bin. Und, was Ich mitschleppe von Meinen Eltern&Ahnen. Mit 67 genieße Ich Mich in allen Zügen. <3 <3

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