Zwischen 40 und 50: Auf innerer Wanderschaft

Foto: newslichter

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Auszüge aus “Mut zum Lebenswandel – Wie Sie Ihre biografischen Erfahrungen sinnvoll nutzen“ von Brigitte Hieronimus. Wenn wir biografisch zurückschauen auf die Phase zwischen 14 und 35, stellen wir fest, dass wir damals wegweisende Entscheidungen trafen, mit denen wir erst mal leben mussten, um zu wissen, ob und wo eine Korrektur notwendig ist.

Als Teenager hatten wir noch bestimmte Erwartungen an das Leben, die dann aber mit der späteren Lebenswirklichkeit nicht mehr vereinbar waren. Diese Erwartungen und Vorstellungen aufzugeben bedarf nicht selten eines jahrelangen zähen Ringens mit sich selbst. Dabei sind es in der Regel die früh erworbenen Lebensmuster und Egostrukturen, die sich der befreienden Veränderung widersetzen. Bewegen wir uns aus der Jugend heraus, suchen wir nach einem idealen Lebenskonzept, bis wir uns früher oder später für den Platz entscheiden, der uns am meisten zu entsprechen scheint – um dann irgendwann erneut aufzubrechen und Lebenskorrekturen vornehmen, die wiederum einen neuen Wandel einleiten. Stemmen wir uns in den Jahren nach 30 gegen notwendige Lebenskorrekturen, stagnieren wir und erfinden Ausreden und Rechtfertigungen dafür, dass das Leben nicht gelingen mag. Meist stolpern wir über die viel zu hohen Ansprüche an uns selbst und an die Menschen um uns herum.

Ursachen und Folgen überzogener Ansprüche
Wenn Erwartungen und Forderungen an uns gestellt werden, die wir von unserer Entwicklung her noch gar nicht zu erfüllen im Stande sind, setzen sich Versagensängste und Selbstzweifel fest. Ein unerträgliches Gefühl, das häufig mit unermüdlichem Fleiß und Disziplin kompensiert wird. Die Folge ist ein wackeliges Selbstbild, beruhend auf einem brüchigen Selbstwert: Wenn ich mich nur genügend anstrenge, ist alles machbar und möglich. Oder anders ausgedrückt: Wenn anderen etwas nicht gelingt, sind sie zu dumm, zu faul oder zu bequem. Solange diese Ansprüche an sich selbst und andere als richtig erachtet werden, glaubt man, keine Fehler machen und zulassen zu dürfen. Ein schwerwiegender Irrtum … Beobachten wir Kinder, die einfach ausprobieren dürfen, ohne sofort korrigiert und beurteilt zu werden, lernen sie allein durch ihre freudvolle Wissbegierde und experimentieren munter weiter. Sie wissen noch nicht, was sie falsch machen, wenn sie die großen Bauklötze auf die kleinen stapeln, finden aber schnell heraus, wie sich das mit der Schwerkraft verhält. Werden Kinder hingegen laufend dazu angehalten, bloß nichts falsch zu machen, sich zu konzentrieren und ihren Grips anzustrengen, lernen sie zwar zu funktionieren, werden aber immer selbstunsicherer und verlieren im Laufe des Lebens die natürliche Freude am Lernen. Das wiederholt sich auf ähnliche Weise in den späteren Lebensphasen: Solange unsere einst hart erkämpften Standpunkte, Wertvorstellungen und Glaubenssätze nicht angegriffen werden, wähnen wir uns in trügerischer Sicherheit. Wir haben ja gelernt zu tun, was uns gesagt wurde … Doch glücklicherweise schiebt uns das Leben immer wieder zurück auf das Gleis der Weiterentwicklung.

Frühe Sehnsüchte, späte Wegweiser
Indem wir uns mit unseren einstigen Wünschen und Sehnsüchten auseinandersetzen, lernen wir, die Spreu vom Weizen zu trennen. So gibt es im Laufe des Lebens Wünsche und Träume, die uns dazu bringen, uns auf innere Wanderschaft zu begeben. Dann folgen wir unbeirrt und voller Energie einer Idee, obwohl sie anderen wie Spinnerei erscheint. Und es gibt Sehnsüchte, die eher unsere Illusionen nähren. Eine solche häufig hartnäckige Sehnsucht liegt dem Wunsch nach hingebungsvoller Liebe zugrunde. Niemand kann dauerhaft hingebungsvoll lieben. Das ist der Stoff, aus dem bittersüße Dramen, melancholische Liebeslieder und Seifenopern entstehen.

Zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit

In den Jahren zwischen 40 und 50 spüren wir deutlicher als je zuvor, dass es darum geht, sich nach der inneren Wahrheit auszurichten, zu verinnerlichen, was für uns selbst stimmig ist. Wir beginnen, die Wahrhaftigkeit uns selbst gegenüber wahrzunehmen, wenn die Dinge, die wir tun, uns mit Freude und Zufriedenheit erfüllen. Freundschaften werden intensiver gepflegt; Frauen wie Männer vertiefen ihre Freude an der Natur, an Musik, Kunst oder Literatur und entwickeln neues Interesse an Politik, Religion oder Wissenschaft. Die innere Klarheit nimmt zu und lenkt somit auch die Schaffenskraft in neue Bahnen. Man möchte vielleicht noch etwas Ungewöhnliches ausprobieren, sich mit anderen Menschen zusammentun, die zu inspirieren verstehen, und geht auf Distanz zu Nörglern und Miesmachern. Fehlt jedoch die innere Klarheit und Reflexion, kann es passieren, dass man nach Ersatz für unterdrückte Sehnsüchte greift. Wenn wir ständig versuchen, dem Lebensstress und dem inneren Unbehagen zu entfliehen, laufen wir Gefahr, eine Sucht zu entwickeln. Sei es die Sucht, maßlos zu shoppen, bis zur totalen Erschöpfung zu arbeiten oder Marathon zu laufen, dem Glücksspiel zu frönen, sich mit Alkohol zu betäuben oder nächtelang im Internet zu surfen.

Sterblichkeitskrisen … damit Neues beginnen kann
Was aber fehlt uns wirklich, wenn wir zwanghaft shoppen müssen? Wovor haben wir Angst, wenn wir nur in Internetforen wagen, uns frei zu äußern? Je mehr wir uns auf das gestützt haben, was andere von uns wollten und dachten, desto größer ist die Gefahr, dass wir uns von uns selbst entfernt haben. Zwischen 40 und 50 beginnen die Säulen der aufgebauten Identitäten zu bröckeln. Worauf wir einst gebaut haben, trägt nur noch bedingt. Womit wir uns im Laufe des Lebens identifiziert haben, kommt nun auf den Prüfstand: Was ist noch lebendig und energiespendend? Was ist erstarrt und kräftezehrend? Bricht beispielsweise die berufliche Säule zwischenzeitlich weg, sollten die Säulen der sozialen Bezüge wie Partnerschaft, Freundschaft und Beziehungsnetze stabil genug sein, damit das soziale und emotionale Gefüge nicht in sich zusammenfällt. Und was ist mit der Säule der Leistungsfähigkeit, wenn die Gesundheit schwindet? Erfahrungen wie diese werfen uns auf biografische Fragen zurück: Wer bin ich eigentlich? Worauf beziehe ich mich und wer bezieht sich auf mich? Worüber definiere ich mich? Fragen wie diese können dazu führen, dass der Wunsch nach einem lustvollen Ausscheren aus allzu normativen Reihen aufkommt. Die Heiterkeit am Dasein zu spüren, angstfrei etwas vermeintlich Verrücktes auszuprobieren, das gelingt jenen, die den Sprung ins Unbekannte wagen, die ohne Netz und doppelten Boden bereit sind, sich dem Neuen anzuvertrauen. Indem wir dem Bekannten etwas Unbekanntes hinzufügen, entdecken wir sie wieder: die Neugier auf das Leben! Dann schauen wir auch nicht länger wehmütig zurück, sondern akzeptieren, dass die Vergangenheit vergangen ist, und Abschiede sein müssen, um das Neue ins Leben hineinzulassen. So bietet das Leben selbst die immerwährende Gelegenheit dankbar die kleinen Kostbarkeiten des Augenblicks zu erfahren und das Jetzt zu genießen. An unseren Wünschen und Träumen der zurückliegenden Jahre können wir aber auch das Drängende Ungeduldige in uns ablesen. Bei den einen war es das Streben nach dauerhafter Fitness und immerwährendem Erfolg, bei den anderen das Streben nach ewiger Liebe und einem intakten Familienleben. Doch jede Idee von Vollkommenheit und verbindlicher Kontinuität wird eines Tages zwangsläufig von der Realität eingeholt und scheinbar mit Leiden vergolten. Das Leben kommt eben nicht nur in Samt und Seide daher, sondern schmirgelt uns lebenstauglich zurecht, damit sich Irrtümer und Illusionen auflösen und wir uns mit der Zeit eine realistische Haltung zum Leben aneignen. Insofern geht es in den Jahren ab 45 darum, neue Möglichkeiten wahrzunehmen und sie zu nutzen, um die Welt neu zu verstehen. Andernfalls leiden wir jahrein, jahraus an dem, was nicht abgeschlossen wurde.

Lebensklugheit ist keine Besserwisserei

Der durch Erfahrung geschulte Mensch weiß, dass sich manches im Laufe eines Lebens erfüllen kann, anderes nicht. Wie wir mit dem Unerfüllten umgehen, hängt von unserer inneren Haltung ab. Als Kind wünschten wir uns ein bestimmtes Spielzeug, ein Geschwisterchen oder eine Katze. In der Schule wollten wir die besten Noten oder unbedingt zur Clique gehören, in den Sturmjahren ein Moped oder eine sexy Figur. Zwischen Wollen, Wählen und Besitzen bewegte sich, einem Pendel gleich, das bisherige Leben. Erst nach der Lebensmitte reift eine andere Sehnsucht heran: die Sehnsucht nach Authentizität und Wahrhaftigkeit. Entsprechend setzen wir nun neue Prioritäten. „Was habe ich um der Harmonie willen bisher unterdrückt?“ War ein Urlaub am Meer bislang undenkbar, weil der Gatte die Berge und ein strammes Wanderprogramm liebt, kitzelt die Gattin nun ihren Wunsch wach, allein an die See zu fahren, sich in einer einsamen Fischerkate einzumieten … Manchmal geht eine Beziehung daran zugrunde – sie kann aber auch gestärkt daraus hervorgehen. Wer bereits einige Partnerschaften hinter sich hat, wird realistischer in seiner Einschätzung, was eine Beziehung leisten kann und was nicht. Jede Paarbeziehung bringt früher oder später unlösbare Konflikte mit sich, da der Spannungsbogen der Ambivalenzen nicht immer aufzulösen ist.

Hintergrund: Das ist der erste Teil einer neuen Serie bei den newslichter, in der monatlich immer ein Lebensjahrsiebt vorgestellt wird. Dank an den Kamphausen Verlag für die Freigabe der Auszüge aus dem Buch Mut zum Lebenswandel – Wie Sie Ihre biografischen Erfahrungen sinnvoll nutzen. Eine ausführliche Besprechung des Buches hier.

brigitteZur Person: Brigitte Hieronimus arbeitet als erfahrene Paar-und Biografieberaterin, Trainerin, Referentin zum Thema Wechseljahre und Dozentin für biografisches Schreiben. Der Autorin gelingt es auf lebendige Weise, den Lesern eine mutmachende neue Sichtweise zu vermitteln. Daher ist sie immer auch gefragte Interviewpartnerin in TV, Hörfunk und Presse. Mehr auf ihrer Webseite www.brigitte-hieronimus.de

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