Rückblick: Filmfestival Cannes 2013

Foto: Almodo Film Verleih

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Nach zögerlichem Start entpuppte sich der 66. Jahrgang des wichtigsten Filmfestivals der Welt in Cannes als ausgesprochen guter. Da das Kino nun mal die Kunstform ist, die am direktesten ein Spiegelbild unserer Welt liefert, gab es natürlich viel Gewalt zu sehen, viel Ringen um Macht, noch mehr Ohnmacht, viele Kämpfe, die aus der wachsenden Kluft zwischen Haben und Nichthaben, Arm und Reich resultieren, Aufbegehren gegen Ungerechtigkeit, meist vergebens. Aber es gab auch unendliche Zärtlichkeit, große und kleine Siege, Versöhnliches, Tröstliches und wirklich Schönes, Schönheit im Sinne von Lebendigkeit.

Und da gute Filme immer auch gute Nachrichten sind, soll hier vor allem von ihnen berichtet werden, und von den Preisen, die eine hochkarätige Jury – neben Präsident Steven Spielberg u. a. Nicole Kidman, Christoph Waltz, Ang Lee, Daniel Auteuil, Christian Mungio – dafür nachvollziehbar und dem Vernehmen nach einvernehmlich verliehen. Eine Ode an das Leben in all seinen schönen und schmerzhaften Facetten könnte eindringlicher nicht gelingen als mit dem Film, der denn auch – verdient und von den Kritikern erwartet – die Goldene Palme gewann: „La vie d’Adèle – Blue is the warmest colour“ (noch kein deutscher Starttermin) von Abdellatif Kechiche. Erstmals in der Geschichte des Festivals wurde der Hauptpreis nicht nur dem Regisseur, einem Franzosen tunesischer Abstammung, sondern auch seinen beiden Hauptdarstellerinnen Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux verliehen. Das macht Sinn, denn ohne diese beiden Darstellerinnen, die alle Grenzen der Schauspielerei hinter sich zu lassen scheinen und einfach auf der Leinwand präsenet sind, wäre dieser Film nicht das Meisterwerk geworden, das er ist. Jede Regung, jedes Gefühl spiegelt sich in ihren Gesichtern, ihren Körpern und schlägt drei Stunden lang in Bann. Explizite Sexszenen sind nie voyeuristisch, sondern Ausdruck der Liebe, Leidenschaft und Vertrautheit zwischen den beiden jungen Frauen: Kurz vor ihrem Schulabschluss lernt die 17-jährige Adèle in Lille die schon etwas ältere lesbische Künstlerin Emma kennen und verliebt sich augenblicklich, obwohl sie zunächst selbst nicht recht weiß, wie ihr geschieht. Sie ziehen zusammen, doch der Alltag ist für die beiden unterschiedlichen Frauen nicht leicht zu bewältigen – Misstrauen, Verletzungen folgen, schließlich die Trennung, die tiefe Wunden bei Adèle schlägt. Ein Drama von echter menschlicher Größe, und vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Streits um die Liberalisierung der Homo-Ehe in Frankreich von starker politischer Dimension.

le-passe-past-posterDie Leistung, Gesellschaftliches mit einer intimen Familiengeschichte zu verbinden, gelang auch Asghar Farhadi mit seinem sensationellen „Le passé“. Für die Hauptrolle wurde „The Artist“-Aktrice Bérénice Bejo als beste Darstellerin ausgezeichnet. Der iranische Regisseur, der bei der Berlinale 2011 mit „Nader und Simin – Eine Trennung“ den Goldenen Bären holte, schafft mit seinem ersten im Ausland gedrehten Film ein intensives Beziehungsdrama und eine nichts beschönigende (Patchwork-)Familiengeschichte, die mit ihren unterschiedlichen Protagonisten eine ganz eigene Dynamik entwickelt. Ein Iraner kommt nach Jahren nach Frankreich zurück, um auf Drängen seiner Frau Marie endlich die Scheidungspapiere zu unterschreiben. Er weiß nicht, dass sie mit einem anderen zusammen lebt. Die Rivalität zwischen altem und neuem Mann löst Konflikte aus, vor allem aber die unter der Oberfläche gärende Schuldfrage, in die auch Maries Tochter verstrickt wird. Kluges, von der ersten bis zur letzten Minute atemberaubendes Kino (Camino Filmverleih).

Auch der beste Hauptdarsteller, der 76-jährige Bruce Dern, brillierte in einer tief bewegenden Familien-Geschichte. Alexander Paynes schwarzweiß gedrehtes, melancholisches Roadmovie lässt einen alten, von Alkohol und Alterssturheit gekennzeichneter Mann, der nie ein besonders liebevoller Vater war, keine Ruhe finden. Immer wieder büchst er aus und macht sich zu Fuß auf den Weg ins ferne Nebraska, um dort ein angebliches Preisgeld von 1 Mio. Dollar abzuholen. Er weigert sich, zu verstehen, was alle um ihn herum wissen: dass es sich bei dem sogenannten Gewinn nur um einen miesen Werbetrick handelt. Sein Sohn hat Erbarmen mit dem Alten und begibt sich mit ihm auf eine Roadtrip, der sie zu Familie, alten Freunden und lange hinter sich geglaubten Lebensepisoden führt und die Beziehung von Vater und Sohn verändert. Paynes wunderbar beobachtete Charakterstudie mit kühl-realistischem und doch liebevollem Blick und Witz gewinnt einem Tabuthema neue Seiten ab und fügt sich in den Kanon des Werks nachdenklicher, bewegender Balladen wie „About Schmidt“, „Sideways“ und „The Descendants – Familie und andere Angelegenheiten“.
Eine Vater-Sohn-Geschichte erzählt auch der Japaner Hirokazu Kore-eda mit „Like Father, like Son“: ein Karriere-Mann in Tokio beginnt sein Leben zu überdenken, als er erfährt, dass sein einziger Sohn nicht sein Fleisch und Blut ist, sondern bei der Geburt vor sechs Jahren versehentlich vertauscht wurde. Der leibliche Sohn wächst bei einer ärmeren Familie auf und er und seine Frau müssen entscheiden, ob sie ihn in Obhut nehmen wollen oder den Jungen, den sie aufgezogen und liebgewonnen haben. Eine behutsame, sehr gefühlvolle Reflexion über das, was unser Leben ausmacht, in guter Tradition großer japanischer Regisseure wie Yasujiro Ozu. Ein verdienter Jury-Preis.

inside_llewyn_davis_new_posterDer Grand Prix ging an eine geniale Fingerübung der Brüder Joel und Ethan Coen: „Inside Llewyn Davis“ ist das verzweifelt-komische Porträt eines jungen Folk-Musikers im New York der 60er Jahre, der es schafft, anders als kurz darauf Bob Dylan, immer zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und nicht berühmt und erfolgreich zu werden. (Studiocanal, Kinostart 2.1.2014) „Jeune et Jolie“, dem Beitrag von Francois Ozon im Wettbewerb, gelingt mit großer Leichtigkeit die schwere Übung, aus einer aussichtslos erscheinenden Situation einen versöhnlichen Neustart hinzulegen: eine 17-Jährige, gut behütet aufgewachsen, gerät nach ersten sexuellen Erfahrungen in den Sog der Bestätigung, die sie als Edel-Callgirl erfährt. Doch nach einem aufwühlenden Erlebnis findet sie wieder zu sich selbst, „with a little help from her friend“ Charlottte Rampling. Ein schön anzuschauendes Vergnügen, das wegen seiner Darstellung der Prostitution Debatten auslöste, mit Model Marine Vacth in der Hauptrolle.

Neben den vielen jungen, überzeugenden Schauspielerinnen vor allem aus Frankreich war es bei den männlichen Kollegen ein Jahr für Silver Ager aus den USA: Neben Bruce Dern zeigten Michael Douglas (in Steven Soderberghs brillanter Schwulen-Love-Story um den exzentrischen Entertainer Liberace, „Behind the Candelabra“) und Robert Redford (in dem faszinierenden Ein-Mann-Drama „All is Lost“ von J. C. Chandor), dass Lebenserfahrung in Kombination mit Talent zu ungeahnten Schauspiel-Höhen führen kann.

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