Von der Berührung der Unerreichbaren

Jochen Schilk gibt eine ermutigende Geschichte weiter. Erstmals erschienen in OYA 49/2018. Der in Kalifornien lebende Permakulturlehrer Warren Brush gab diese Anekdote  im Rahmen eines Vortrages weiter – er selbst kannte sie offenbar »aus erster Hand« – hatte mich beim ersten Hören so berührt, dass ich das auf YouTube verfügbare Video von der 10. internationalen Permakultur-Konferenz 2011 in Amman/Jordanien spontan ins Deutsche übertrug. Es geht es um eine indigene Person, die Gelegenheit erhält, den Verantwortlichen eines Konzerns klar zu machen, welch schreckliche Auswirkungen die von ihnen betriebene Fabrik auf das Leben der Nachbarschaft hat.

Das indigene Volk der Mohawk gehört neben den Cayuga, Oneida, Onondaga, Seneca und Tuscarora zu den »Six Nations of the Iroquois«, ein nordamerikanischer Völkerbund, der bereits seit rund 800 Jahren besteht. Die sechs Irokesen-Nationen nennen sich selbst »Haudenosaunee«: »Menschen aus dem Langhaus«. Die Geschichte beginnt damit, dass zahlreiche Angehörige der Mohawk, die im Reservat Akwesasne im US-Bundesstaat New York leben, plötzlich erkrankten. Kinder kamen mit Missbildungen auf die Welt, und die Alten starben unerklärlich früh. Die herbeigerufene Gesundheitsbehörde nahm verschiedene Proben aus der Umwelt des Reservats, darunter auch Wasserproben aus dem St. Lawrence River, der das Land durchzieht. In diesem Wasser fanden sich verschiedene giftige und krebsauslösende organische Chlorverbindungen aus industriellen Abwässern. Flussaufwärts befand sich eine Aluminiumfabrik, die erst vier oder fünf Jahre zuvor dort errichtet worden war. Weitere Wasserproben ergaben, dass der Fluss oberhalb dieser Anlage unbelastet war.

Abgesandte aus dem Reservat statteten also der Fabrikeigentümerin, dem multinationalen Konzern Reynolds (heute Alcoa), einen Besuch ab und sprachen mit dem für die Anlage verantwortlichen Mann. Ihm erzählten sie, was bei ihnen los war, und präsentierten die gesammelten Beweise – doch dieser und weitere Repräsentanten des Konzerns verlegten sich stur darauf, dass das Gesetz die Abwasser–einleitung gestatte. Es half auch nichts, dass die bestürzten Mitglieder der indigenen Delegation sie nach ihrem moralischen Empfinden fragten. »Unsere Kinder kommen krank oder tot zur Welt«, erregten sie sich. »Habt ihr denn kein Gefühl dafür, was richtig und falsch ist? Nur weil euch das Gesetz etwas erlaubt, heißt das doch nicht, dass ihr es tun solltet!«

Weil der Konzern durch keine derartigen Appelle von seinem Standpunkt abzubringen war, stellten die Mohawk eine große Kampagne auf die Beine, die den gesamten Nordosten der USA über die schrecklichen Missstände in Akwesasne aufklärte. Und endlich – nachdem die Vergiftungserkrankungen unter den Reservatsbewohnern noch ein ganzes Jahr weitergewütet hatten – war der Druck der Öffentlichkeit groß genug, dass der Reynolds-Konzern einwilligte, einem Abgesandten des Reservats 45 Minuten Redezeit bei der Vorstandssitzung in New York zu gewähren. Die Mohawk erkoren daraufhin Jake Swamp zu ihrem Sprecher, denn der hatte sein ganzes Leben dem Frieden gewidmet. Jake hatte zum Beispiel ein Kinderbuch über das Danksprechen verfasst und er war sein Leben lang durch die Welt gereist, um nach einer uralten Tradition Friedensbäume zu pflanzen. Gemeinsam erarbeitete man eine Präsentation, in der alle relevanten Daten aufbereitet waren, und Jake ging damit nach New York City, wo in einem Wolkenkratzer das Meeting stattfand. Im obersten Stockwerk wurde er in einen äußerst opulent ausgestatteten Sitzungssaal geführt, in dem Leute in 4000-Dollar-Anzügen an Tischen aus Kirschholz saßen. Jake berichtete später, dass ihn spätestens bei diesem Anblick das Gefühl überkommen habe, dass die gesamte Pracht letztlich auf dem Leiden der Kinder seines Volks beruhte; diese Leute beklauten aber auch buchstäblich ihre eigenen Enkel, sie schlugen sich auf diese Weise quasi selbst.

Unbeirrbare Intuition

Was geschah, nachdem Jake vom Vorsitzenden der Veranstaltung aufgerufen wurde, kann wohl am besten in den Worten von Warren Brush wiedergegeben werden – zu sonderbar ist das, was die Hauptperson der Geschichte ihm selbst berichtet hat:
»Jake blickte in die Runde, und irgendetwas inspirierte ihn. Sein Herz und seine Intuition meldeten sich, und ihm war plötzlich klar, dass er die gemeinsam vorbereitete Präsentation nicht halten würde. Stattdessen würde er auf eine uralte Tradition zurückgreifen, die vor mehr als tausend Jahren von einem Friedensstifter – dessen Namen zu nennen, mir hier aus Gründen des Respekts nicht erlaubt ist – begonnen wurde. Diese Tradition wird ›Thanksgiving address‹ [etwa: ›Danksprechung‹] genannt. Jake begann also, in einer Haltung größter Dankbarkeit mit seinen edelsten, schönsten und lebensbejahendsten Worten von allen Aspekten der Schöpfung bzw. der Natur zu sprechen, die ihm in den Sinn kamen. Den Anfang machte er bei den Böden und schlug dann den Bogen zu den Wurzeln der Pflanzen. Dann ging Jake immer höher hinauf: Er zählte alle möglichen Pflanzen auf und drückte ihnen seine große Dankbarkeit aus. In gleicher Weise sprach er mit den besten Worten aus seiner gesamten Lebenserfahrung über die verschiedenen Wasser der Erde, über die Tierarten, die im Laufe der Geschichte auf der schönen Erde erschienen waren und überlebten. Jake drückte seine gesamte Dankbarkeit aus, die er gegenüber Büschen und Bäumen empfand, gegenüber den Vögeln des Himmels und – immer höher hinauf – gegenüber den Wassern in der Atmosphäre und schließlich den Sternen. Dann sagte Jake, dass er all seine Ahninnen und Ahnen ehren wolle – und ebenso all die Ahnen der vor ihm Versammelten! Ausserdem sprach er von der Dankbarkeit für zukünftige Generationen, für Gesichter, die zwar noch nicht hier auf Erden erschienen sind, die jedoch von allem, was wir Heutigen tun, beeinflusst werden. Er sprach: ›Für alles, was wir heute tun, werden uns diese Enkel verantwortlich machen!‹«

Jake Swamps Danksagung nahm die gesamten 45 Minuten in Anspruch. Gegen Ende seiner Rede bemerkte er, dass einige der versammelten Vorstandsmitglieder ihre Köpfe schüttelten; offenbar wollten sie dadurch ihr Missfallen ausdrücken, dass dieser blöde Indianer ihnen ihre wertvolle Zeit stahl. Jake sprach aber unbeirrt weiter. Als die Zeit um war, antwortete der Vorsitzende: »Das war’s, Mr. Swamp. Sie haben sich entschieden, Ihre Dreiviertelstunde auf diese Weise zu nutzen, mehr gibt es nicht.« Als Jake den Saal verließ, kamen ihm die Tränen, denn er hatte mit einem Mal das Gefühl, seine Leute verraten zu haben. Zurück im Reservat erzählte er mit entsetzlich schlechtem Gewissen, wie sein Herz ihm befohlen hatte, vom gemeinsam gefassten Plan abzuweichen. Die Menschen zuhause aber besänftigten ihn, er habe sicherlich das Richtige getan, wenn er auf sein Herz gehört habe: »Du hast unsere Tradition befolgt: Dankbarkeit und Verbindung! Die verschiedenen Kreise des Lebens hast du in deinen besten Worten angerufen – daran kann nichts Verkehrtes sein.«

Am folgenden Morgen erhielt Jake überraschend einen Anruf von einem der Konzernvorstände: »Mr. Swamp, von den Dingen, die Sie da gestern erwähnten, habe ich nie zuvor gehört. Alles, wovon Sie sprachen, habe ich bislang als Ressourcen betrachtet, die man in Profit umwandeln kann. Nie habe ich von der Schönheit dieser Dinge gehört, noch von all diesen Verbindungen und wechselseitigen Abhängigkeiten, die Sie aufzählten. – Mr. Swamp, ich werde meine Position in der Firma dazu nutzen, um mit Ihnen dafür einzutreten, die Politik des Konzerns zu ändern!«

Tatsächlich beendete das Unternehmen im Verlauf eines Jahres nicht nur die Umweltvergiftung durch die eine Fabrik nahe des Reservats, sondern änderte buchstäblich die gesamte diesbezügliche Politik all seiner Fabriken weltweit.
Warren Brush schließt seine Erzählung mit den Worten: »Und dies war nur möglich, weil ein Mensch seinem Herzen gefolgt war.«

Wie erreichen wir Menschen in Machtpositionen?

In Oya Ausgabe 44 haben wir die »Unbeantwortete Frage« gestellt: »Wie erreichen wir die Unerreichbaren?« Sicherlich bietet auch die Irokesen-Tradition der Danksagung diesbezüglich kein Patentrezept; die Geschichte wird ein – recht glücklicher – Einzelfall bleiben. Und dennoch nährt sie in mir immerhin die Ahnung, dass auch noch so unerreichbar wirkende Menschen auf irgendeine je eigene Weise zugänglich sind. Es müssen ja nicht immer CEOs und ähnlich »hohe Tiere« sein – auch die Beilegung eines Streits unter Nachbarinnen oder ehemaligen Freunden mehrt den Frieden. Die Anekdote von Jake Swamp legt nahe, dass es sich lohnt, den Zugang zu vermeintlich unaufgeschlossenen Personen intuitiv aufzuspüren.

Über einen anderen erfolgsversprechenden Ansatz berichtet GfK-Entwickler Marshall B. Rosenberg im Buch »Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation«. Hier finden sich unter anderem mehrere höchst eindrucksvolle Anekdoten, wie zunächst distanziert oder gar feindselig wirkende Menschen in ganz unterschiedlichen Machtpositionen dank empathischer Gesprächsführung plötzlich weich und offen für neue Perspektiven wurden. Rosenbergs Ansatz bedingt allerdings ein gehöriges Maß an Übung. Auch dürfte es in vielen Fällen schwer sein, überhaupt physisch zu einem Konzernchef oder zu ähnlich hochrangigen Entscheiderinnen vorzudringen.

Ein spezielles Problem gibt es zudem im Zusammenhang mit Aktiengesellschaften: Diese sind – das zeigt etwa der Dokumentarfilm »The Corporation« – in besonderem Maß auf rücksichtslose Profitmaximierung programmiert. Ein einzelnes Vorstandsmitglied, das etwa aus Gewissensgründen von der Konzernideologie abrückt, wird schnell durch eine linientreue, skrupellosere Person ersetzt. Nur wenn dem Unternehmen – und damit der Rendite der Anteilseigner – aufgrund eines allgemeinen Imageverlustes Schaden droht, dürfen ökosozial argumentierende Aktivistinnen und Aktivisten auf so etwas wie Einsicht hoffen. Kürzlich ist es etwa der Kampagnenorganisation »urgewald« gelungen, einen genügend großen öffentlichen Druck aufzubauen, der die Allianz-Versicherung veranlasste, künftig keine Geschäfte mehr mit dem Klimakiller Kohle zu tätigen.
Ein Jahr bevor Gunartis Brief auf der Aktionärsversammlung von HeidelbergCement verlesen wurde, war die javanische Kleinbäuerin persönlich bei der Veranstaltung aufgetreten. Ihr zufolge reagierten die Aktionäre und der Vorstand überrascht auf die Rede. Ein Aktionär habe sogar spontan das Wort ergriffen und gesagt, dass er wirklich schockiert sei über das Vorgehen des Unternehmens; alle Versammelten wüssten doch, wie dauerhaft die Zerstörung von Landschaften ist.

Warren Brushs Erzählung lässt sich im Original hier nachhören: kurzlink.de/BrushVortrag

Danke fürs Copy-Left. Mehr über das aktuelle OYA-Heft hier.

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