Christina Kessler über Intuition

Stern: Christina Kessler

„Der Zufall trifft nur einen vorbereiteten Geist.“ Dieser Ausspruch stammt von Louis Pasteur (1822-1895), Pionier auf dem Gebiet der Mikrobiologie, in Frankreich ein Nationalheld und einer der Begründer der modernen Medizin. Er legte die Fundamente für die Entwicklung der Biologie und Biochemie sowie für die Mikrobiologie und Immunologie. Was will er uns damit sagen: Eingebungen können die Welt verändern. Aber Eingebungen passieren nicht einfach irgendwie, selbst wenn es nach außen hin so erscheint. Sie sind die Folge eines vorbereiteten Geistes, wie Pasteur es ausdrückt, eines Geistes, der hinter die äußeren Erscheinungen in das Innere zu blicken vermag.

Hier ist von Intuition die Rede. Intuition kommt von dem lateinischen Deponens intueri. Es bedeutet hineinblicken, und zwar in den tiefsten Wesensgrund. Intuition gewährt Einblick in das Spiel der unsichtbaren Wirkzusammenhänge und ermöglicht, Atmosphären wahrzunehmen. Zwischen den Worten hört sie das Unausgesprochene; sie riecht, wenn es brenzlig wird; schmeckt, ob etwas stimmig ist oder nicht; und spürt die Qualität von Gegebenheiten, Verhältnissen, Meinungen, Sichtweisen oder Entscheidungen. Oft ist ein solcher Einblick mit dem Impuls nach Veränderung, einer Vorahnung oder gar mit dem Auftauchen einer völlig neuen Idee verbunden. Intuition ist in erster Linie rezeptiv; sie empfängt. Und sie hat Einsicht in das Potenzial einer Situation – in ihre Ursachen, ihre Zusammenhänge, Chancen, Gefahren und Konsequenzen –  weil sie durch den gegenwärtigen Zustand hindurchschaut bis auf den Wesensgrund, der wie ein Spiegel wirkt.

Echte Intuition überschreitet nicht nur die Möglichkeiten des Verstandes, sondern auch die der fünf Sinne. Sie blickt hinter das sinnlich wahrnehmbare Einzelne in den unsichtbaren Raum zwischen den Polen. Sie liest, was sich zwischen den Zeilen bewegt.

Der Verstand fokussiert sich auf das Einzelne, auf das Spezielle. Er stellt scharf.

Die Intuition lässt los, sie entschärft den Blick. Das verhält sich ganz ähnlich, wie wenn wir 3D-Bilder betrachten, die beim ersten Hinsehen aus Strichen, Farben und Mustern bestehen. Ein räumliches Bild entwickelt sich erst, sobald man keinen bestimmten Punkt mehr fixiert. Dann offenbart sich, meist verbunden mit einem Aha-Effekt, das ganze Bild. Je unfokussierter das Sehen wird, umso plastischer tritt der in den äußeren Mustern verborgene Inhalt hervor, bis er aus der Unschärfe geradezu herausleuchtet. Dieses Beispiel lässt sich eins zu eins auf die Intuition übertragen. Je unfokussierter das Sehen, umso tiefgreifender das Gesehene und die Erkenntnisse. Die Innenansicht erreichen wir nicht durch zusätzliches Scharfstellen. Ganz im Gegenteil: Erst in der Unschärfe zeigt sich das Ganze.

Jeder von uns hat Intuition schon erlebt. Wir alle wissen, wie es ist,  ohne langes Überlegen oder endloses Abwägen von Vor- und Nachteilen blitzschnell zu kombinieren, die richtigen Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen zu treffen; die Ursache von Problemen zu erkennen und ebenso schnell Lösungen zu finden. Jeder Mensch besitzt unter günstigen Umständen die Fähigkeit, Situationen oder komplexe Zusammenhänge auf Anhieb zu erfassen. Bei jedem tauchen immer wieder einmal Geistesblitze und originelle Einfälle auf, und manchmal können wir tatsächlich Gedanken erraten. Wenn wir jemanden mögen, werden wir sogar richtig hellsichtig, lesen diesem Menschen jeden Wunsch von den Augen ab. Auch unbewusste Entscheidungen, die man sich selbst nicht erklären kann, gehören in die Domäne der Intuition. Ebenso wie Ahnungen, Vorahnungen…

Solche Fähigkeiten fallen uns bei anderen auf, nicht aber bei uns selbst, weil wir in der Regel an den eigenen Eingebungen zweifeln. Dann denken wir meist, es handle sich um eine spezielle Begabung oder einen untrüglichen Instinkt, den der eine eben hat, der andere aber nicht. Es mag sein, dass diese Qualität bei manchen Menschen sehr ausgeprägt ist, grundsätzlich jedoch verfügt jeder Mensch über das Potenzial zur Intuition; das sich deshalb auch entdecken und schulen lässt.

Zur Person: Die Kulturanthropologin Christina Kessler erforscht seit Jahrzehnten die Weisheit alter Kulturen. Ihre Erkenntnisse hat sie in ihrem neuen Buch Wilder Geist – Wildes Herz erstmals zu einem Wegweiser destilliert, der mitten in die alle Weisheitstraditionen und moderne Forschungslinien verbindende Essenz der Intuition führt: Der Wandel, eine Bedrohung? Der Wandel, eine Chance!

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Ein Kommentar zu “Christina Kessler über Intuition
  1. Björn sagt:

    Ein schöner Artikel. Ich gehöre glücklicherweise auch zu den Menschen mit einer ausgepägten Intuition. Ich wusste es viele Jahre nur nicht zu nutzen. Heute möchte ich es nicht mehr missen.

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