Die Kraft der Versöhnung
Während der Apartheid in Südafrika wurde die 23-jährige Lyndi Fourie bei einem Attentat durch Freiheitskämpfer getötet. Heute gehen Mutter Ginn Fourie und Letlapa Mphahlele, Ober-Kommandeur der Freiheitskämpfer und Auftraggeber des Attentats, gemeinsam auf Friedens-Tourneen (Termine auf der neuen Website). Sie zeigen, wie befreiend die Kraft der gegenseitigen Versöhnung sein kann. Nachfolgend die ganze wundersame Geschichte.
Zwei Welten
Ginn (Jeanette) Fourie wächst auf verschiedenen Farmen auf und heiratet nach ihrer Ausbildung zur Physiotherapeutin Johann, mit dem sie einen Jungen und ein Mädchen hat. Tochter Lyndi, geboren 1970, ist ihres Vaters „Augenstern“, warmherzig, hat einen guten Sinn für Humor, ist sehr lebensfroh und sozial aussergewöhnlich wach. Sie hilft schon während ihres Studiums als Tiefbau-Ingenieurin bei Infrastruktur-Arbeiten in benachteiligten, armen Gegenden. Dabei schafft sie schnell einen guten Kontakt zu den schwarzen Mitarbeitern und ist erschüttert, als sie den Geschichten über deren Leben zuhört. Dies bewegt sie, sich aktiv für die Aufhebung von Ungerechtigkeit und Unterdrückung gegenüber der schwarzen Bevölkerung während der Apartheid einzusetzen.
Letlapa Mphahlele, ein Afrikaner, geboren 1970, verlässt aus Frustration über Unterdrückung und Unrecht der Weissen gegenüber seinem Volk als 17-Jähriger seine Familie, das Dorf und die Schule. Er sagt nicht, wohin er geht, damit ihn später niemand verraten kann unter den zu erwartenden Folterungen des Regimes. Auf abenteuerliche Weise gelingt ihm die Flucht über die Grenze ins Exil, wo er sich im militanten Flügel des PAC (APLA Azanian People’s Liberation Army) zum Freiheits-Kämpfer ausbilden lässt. Später wird er als „Director of Operations“ in das Ober-Kommando der APLA gewählt. Seine Aufgabe ist, das Apartheid-Regime mit Attentaten so zu zermürben, dass endlich Veränderungen zu mehr Gerechtigkeit möglich werden.
Das Attentat und erste Versöhnung
In der Zeit nach der Freilassung Nelson Mandelas und dessen Verhandlungen mit der Regierung für ein neues demokratisches Südafrika und für die ersten freien Wahlen versucht das Regime die Veränderungen aufzuhalten, indem es einerseits Afrikaner gegeneinander aufhetzt und andererseits durch die weissen Sicherheitsdienste gezielt Attentate auf Schwarze verübt. Mehr als 20’000 Schwarze lassen in kurzer Zeit ihr Leben. Dies ist der Zeitpunkt, als Lyndi Fourie, mittlerweile 23-jährig, Opfer eines Vergeltungsschlags wird; im sogenannten Heidelberg Tavern Massaker in Kapstadt, am 30. Dezember 1993, ein Vierteljahr vor den ersten demokratischen Wahlen in Südafrika. Lyndis Eltern sind geschockt und zutiefst erschüttert und Ginn ficht einen harten Kampf mit sich selbst aus. Aber an Lyndis Beerdigung hat ihr Bruder in seiner Rede erwähnt, dass die einzige Antwort zu Gewalt nur das „Gewalt absorbieren“ (=annehmen und verarbeiten) sein könne, um Schritte in Richtung Frieden möglich zu machen. Doch das erscheint fast unmöglich, wenn man das Kostbarste, das man hat, soeben verloren hat. In einem persönlichen Gebet vor der versammelten Trauergemeinde sagt Ginn: „Möge durch Lyndis Tod Heilung kommen zu jeder Person, die sie berührt hat – insbesondere zu jenen, die sie umgebracht haben!“ Ginn erklärt, dass sie eine Ahnung hat, dass Gott fähig wäre, den Tätern zu vergeben.Die drei Täter werden bald festgenommen und zu je 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Während der Gerichtsverhandlung fühlt Ginn Wut und Traurigkeit, aber keinen Hass auf die drei Angeklagten. Sie fühlt Empathie und Traurigkeit für die jungen Männer und bietet ihnen Vergebung an. Sie ist zum Schluss gekommen, dass Versöhnlichkeit die einzige Chance sei, einen Pfad in die Zukunft frei zu machen. Gleichzeitig fragt sie sich, wer wohl das Ober-Kommando der drei Attentäter sei.
Der Mann hinter dem Attentat
Jahre später, während der Verhandlungen vor der „Wahrheits- und Versöhnungs-Kommission“ unter Desmond Tutu bitten die drei Attentäter um Amnestie. Ginn erklärt sich einverstanden. 2002 tritt eine General-Amnestie für ehemalige Beteiligte am Freiheits-Kampf während der Apartheid-Zeit in Kraft. Dank dieser Amnestie taucht auch der Ober-Kommandeur der drei Täter nach 20 Jahren im Exil und im Untergrund auf: Letlapa Mphahlele. Ginn hört am Radio ein Interview mit ihm über seine Autobiographie als Freiheitskämpfer („Child of this Soil – My Life as Freedom Fighter“) und beschliesst, an seine Buchpräsentation mit anschliessender Pressekonferenz in Kapstadt zu fahren. Sie bezeichnet diesen Entscheid als Wendepunkt für ihr weiteres Leben.
Das erste Treffen
Vor versammelter Presse spricht Letlapa Mphahlele offen über die Angriffe auf zivile Ziele, unter anderen auch über das Heidelberg Tavern Masssaker. Dank der Tatsache, dass sich Ginn in der Zwischenzeit intensiv mit der ganzen Thematik auseinandergesetzt hat, versteht sie, warum Letlapa darauf beharrt, dass die Attentate „berechtigte Kriegshandlungen“ waren und nicht kriminelle Taten. Sie versteht auch seine Kritik und Bitterkeit über Politiker, welche ihre Soldaten nach den Wahlen von 1994 im Stich gelassen hätten und über Weisse, die sich mitschuldig gemacht hätten, da sie sich nicht stärker für gerechte Veränderungen eingesetzt hätten. Nach der Präsentation meldet sich Ginn und erzählt, dass ihre Tochter Lyndi eines der Opfer seiner Attentate sei. Später erinnert sich Letlapa: „Nie zuvor war ich der Mutter eines Opfers begegnet, das wegen unserer APLA Aktivitäten umgekommen war. Es traf einen sensiblen Nerv in mir.“ Bewegt steigt Letlapa vom Podium runter, geht zu Ginn und sagt: „Ich werde alles tun, um mich mit Ihnen zu einem Gespräch zu treffen.“ Ginn willigt ein und sie vereinbaren ein Treffen.
Ginn erzählt: „Es wäre so viel einfacher gewesen, wenn er ein Monster mit Hörnern und einem Schwanz gewesen wäre – kurz, etwas zum Hassen!“ Aber im Gegenteil, sie erkennt hinter Letlapas starkem Äusseren einen aussergewöhnlich intelligenten Mann mit grosser Sensibilität, Integrität, Menschlichkeit und gutem Sinn für Humor und Poesie. Sie ist äusserst beeindruckt, auf welche Weise er Verantwortung übernimmt für die Ermordung von Lyndi. Letlapa erklärt ihr: „Wenn irgend jemand Schuld ist an diesem Attentat – mehr als jene, die den Finger am Abzug hatten – dann bin ich es.“ Er versucht nicht, die Verantwortung jemand anders in die Schuhe zu schieben. Er entschuldigt sich nicht – auch später nie -, da er nach seiner Volkstradition davon ausgeht, dass es Taten zur „Wiedergutmachung“ sind, die zur Heilung beitragen.
Er sucht bei ihr eher Vergebung im spirituellen Sinn als die Vergebung vor der „Wahrheits- und Versöhnungs-Kommission“. Dies ist die Art von Versöhnung, die er auf diese Weise auch bei den anderen Opfern seiner Anschläge sucht, indem er aktiv „Wiedergutmachung“ leisten möchte. Später sagt er in einem Interview: „Ginn gab mit das grösste Geschenk, das man bekommen kann – das Geschenk der Vergebung. Diese Erfahrung löste in mir einen Reifeprozess aus, der mich heute klar auf ‚die Versuchung zu töten’ verzichten lässt.“ Ginn definiert Vergebung als „die Aufgabe deines begründeten Rechts auf Rache“.
Ein gemeinsamer Weg
Ginn und Letlapa finden heraus, dass sie eine gemeinsame Vision haben: Sie träumen beide davon, Menschen zur Ermächtigung (empowerment), Wiedergutmachung und zu Versöhnung zu verhelfen. Es ist ihnen klar, dass es genau diese drei Dinge braucht, um Soldaten, die in den Freiheits-Kämpfen involviert waren, Heilung zu ermöglichen. Diese sollten in ihren angestammten Gemeinschaften „genährt“ und als „normale“ Bürger wieder willkommen geheissen werden. Ginn und Letlapa fühlen sich tief miteinander verbunden.
Wenig später lädt Letlapa Ginn ein, ihn bei seiner „Home-Coming Ceremony“ in Seleteng, Provinz Limpopo, zu begleiten. Es ist Brauch, dass ein Mitglied der Gemeinschaft, das wegen des Kampfs für die Freiheit lange weg war, mit einem grossen Fest zu empfangen und in der Gemeinschaft wieder willkommen zu heissen. Dabei werden Reden gehalten von Würdeträgern und von den Heimkehrern. Letlapa möchte, dass Ginn auch eine Rede hält.
Ginn bittet die Gemeinschaft im Namen ihrer Vorfahren um Vergebung für all die Unterdrückung, Entwürdigung und Schande, welche diese über die afrikanische Gemeinschaft gebracht hätten durch Versklavung, Kolonialismus und Apartheid. Sie zeigt die Verbindung zwischen Scham, Entwürdigung und Gewalt auf und bittet die Menschen, „uns tanzen zu lehren zu den Rhythmen Afrikas“, indem wir teilen, was wir fühlen; speziell die Angst voreinander, Wut oder Traurigkeit. „Wenn wir schmerzliche Gefühle miteinander teilen, können wir tragende Beziehungen aufbauen und Gewalt und Korruption überwinden, die uns plagen.“Mit der eindringlichen Hoffnung, einen gemeinsamen Weg zu finden und das Beste der beiden Kulturen miteinander zu verschmelzen und miteinander zu handeln, schenkt sie Letlapa eine Collage von Lyndis Leben, worauf geschrieben steht: „Für Letlapa Mphahlele. Dies ist ein denkwürdiger Tag für die Kinder dieses Bodens. Wir haben gegenseitig unser Blut vergossen. Jetzt sollen unsere Tränen und unser Schweiss die Grundlage für die Schaffung eines neuen Landes bilden. Von Ginn Fourie.“ Lauter Applaus ertönt.
Letlapa betont, dass Versöhnung nicht an einem einzigen Tag geschieht, sondern dass der Prozess weitergehen muss. Damit verbunden sei auch die Wiedergutmachung an seinem Volk punkto Armut und Landlosigkeit. „Früher hat uns die Apartheid von einander getrennt aufgrund von Rasse. Spätere Generationen werden es uns nicht verzeihen, wenn wir uns freiwillig von einander getrennt halten. Lasst uns dem Beispiel von Ginn folgen, die sich entschieden hat, zu verstehen und zu vergeben. Herzlichen Dank, Ginn, dass du gekommen bist, um uns zu zeigen, dass der Krieg vorbei ist.“
Nach der Zeremonie wird Ginn von den Frauen in die Arme genommen und gemeinsam weinen sie über das erlittene Leid. Als sich Ginn von Letlapa verabschiedet, fragt sie ihn, ob sie ihn in die Arme nehmen dürfe. Die nachfolgende Umarmung tut beiden sehr gut.
Die Gründung der Stiftung
Kurz darauf gründen sie gemeinsam die Lyndi Fourie Foundation mit diesem Ziel:„Es gehört zu unserer Verantwortung als Südafrikaner, alle unsere Möglichkeiten zu nutzen, um Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung zu fördern und die Gräben von Rasse, Geschlecht und unterschiedlichen Ideologien zu überwinden. Es ist Zeit, den Teufelskreis von Täter – Opfer aufzulösen.“ Seit der Gründung haben Ginn und Letlapa in vielen Ländern Workshops geführt, um den Gedanken der Versöhnung auch anderen Menschen zugänglich zu machen. In diesen Tagen sind die in der Schweiz unterwegs.
Ginn widmet ihre Zeit seit ihrer Pensionierung (als Chef-Dozentin für Physiotherapie an der Universität in Kapstadt) der Administration und Weiterentwicklung ihrer Stiftung und der Organisation von Workshops für Menschen mit ganz verschiedenen Bedürfnissen im In- und Ausland. Ausserdem freut sie sich über ihre Familie und ihre drei Enkelkinder.
Letlapa ist Präsident der Pan Africanist Congress Partei und gilt als äusserst integres Mitglied des südafrikanischen Parlaments. Auch er setzt sich nach Kräften ein für die Ziele der gemeinsamen Stiftung.
Aufgezeichnet von Susi Gubler.