Breche auf!

DSCN9073Von Christoph Quarch. „Es gibt“, heißt es in einem alten hinduistischen Lehrbuch, „kein Glück für den Menschen, der nicht reist. Gott ist ein Freund der Reisenden. Also breche auf!“ Nicht nur die alten Inder wussten solches – auch die Weisen anderer Völker lehrten und lehren die tiefe spirituelle Bedeutung, die jeder echten Reise innewohnt. „Unternimm eine Reise“, ermutigte etwa der große Sufi-Mystiker Rumi seine Leser. Wobei er nicht verschwieg, was er unter einer echten Reise verstand: „Unternimm eine Reise vom Ich zum Selbst“; eine Reise, bei der es wirklich etwas zu erfahren gibt; eine Reise, die den Reisenden verändert und mit jedem Reisetag mehr zu sich kommen lässt.

Nur: Wer reist schon so? Und wie macht man das? Einer, der darüber Auskunft erteilt, ist Ilja Trojanow, jener Autor wunderbarer Reisebücher, bei dem in die Schule gehen muss, wer die Kunst des Reisens zu lernen begehrt. „Reise nicht von der Heimat in die Fremde und wieder zurück“, rät er, „sondern verwandle die Fremde in Heimat!“ Was der weitgereiste Bulgare damit sagen will: Nur der weiß zu reisen, der seine Reise mit offenem Ausgang antritt; dem es nicht darum geht, an ein schon gewusstes oder gewolltes Ziel und schon gar nicht am Ende wieder nach Hause zu kommen. Sondern der aufbricht, um Neues zu entdecken. Ganz im Sinne des großen jüdischen Philosophen Martin Buber, der einst schrieb: „Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt“.

Nimmt man dies zum Maßstab, wird man fragen müssen, ob es überhaupt noch Reisende gibt. Oder ob der gängige Tourismus nicht längst das eigentliche Reisen unmöglich gemacht hat. „Fast jeder ist unterwegs, aber wer ist wirklich auf Reisen?“, fragt Trojanow nicht ohne Grund und erklärt: „Reisen ist keine Produktlinie des ADAC, Reisen geht über die Veränderung der Lokalität hinaus – Reisen kann ein metaphysischer Akt des Erkennens und Erfahrens sein.“ Wer hingegen glaubt, die Welt im Schutz der Panoramascheibe eines Reisebusses oder vom Deck eines Kreuzfahrschiffes erkunden zu können und dabei den Staub, Schmutz und Gestank der Fremde scheut, wird nie den spirituellen Zauber des Reisens ahnen.

Denn dafür braucht es eine andere Haltung als die des Touristen. Vier Wegweisungen gibt Trojanow allen wahrhaft Reisewilligen: alleine reisen, ohne Gepäck, zu Fuß, hinter der Fassade des Offensichtlichen. Warum? Der erfahrene Reiseautor ist um eine Antwort nicht verlegen: „Nur wer alleine reist, setzt sich völlig aus: einer unbekannten Welt, einer unverständlichen Sprache. Alleine ist man ständig wach und aufmerksam, biegsam und zugleich angespannt wie eine Bogensehne.“ Alleine reisen ist so gesehen eine Initiation. Nicht ohne Grund schickten einst die englischen Aristokraten ihre halbwüchsigen Söhne auf die „Grand Tour“. Sie wollten Männer aus ihnen machen. Auch dem Pilgern wohnt der Charakter der Initiation bei. Pilgern ist mehr, als „einfach mal weg“ sein, wer wirklich pilgert, tritt – ganz in Rumis Sinne – eine Reise ins Innere an: eine Reise der Entbehrungen, des Zurücklassens, der inneren Reinigung. Ein Weg des Sterbens auch, bei dem alte Muster und Gewohnheiten auf der Strecke bleiben sollen. Eben das ist auch der Grund dafür, warum man laut Trojanov ohne Gepäck reisen sollte: Weil an jedem mitgebrachten Gepäckstück etwas von der Identität des Reisenden hängt, ein Stück Zuhause, das ihn daran hindert, die Fremde zur Heimat werden zu lassen. Reist man hingegen mit leichtem Gepäck, lege man „irgendwann einmal seine Sorge, seine Befangenheit ab“, weiß er.

Zu einer tiefen Erfahrung und spirituellen Entdeckung wird eine Reise aber auch bei leichtem oder gar keinem Gepäck nur dann geraten, wenn das Tempo stimmt. Und genau daran hapert es in unserer modernen Reisekultur am meisten. Schon das Fahrrad ist zu schnell, wenn es darum geht, nicht nur von A nach B, sondern von außen nach innen, von der Betriebsamkeit in die Ruhe, vom Ego in die Seele zu kommen. Für eine Reise in die Tiefe bleiben am Ende nur die Füße. Sie sind die besten Fortbewegungsmittel, weil Geist und Seele mit ihnen Schritt halten können.

DSCN9127„Ich würde nur einem Gedanken trauen, der mindestens zehn Kilometer gewandert ist“, soll Friedrich Nietzsche gesagt haben, und er scheint Recht damit zu haben. Zumindest ist es eine häufig bestätigte Erfahrung, dass nichts so sehr den Geist bewegt und das Herz öffnet, wie eine Wanderung. Mit jedem Schritt bekommen die Gedanken mehr Tiefe, mit jedem neuen Blick in die Welt weitet sich das Herz. Bis Denken und Fühlen zueinander finden, und die Reise ihr eigentliches und erwartetes Ziel erreicht. Es ist gewiss kein Zufall, dass schon der Philosoph Platon zwei seiner bedeutendsten Dialoge unterwegs stattfinden ließ: als Gespräch bei einer langen Wanderung.

Wandern, Pilgern, bedächtiges Reisen, allein und frei von Ballast, jenseits der ausgetretenen Wege: so reizvoll und faszinierend diese Vision eines spirituellen oder auch philosophischen Reisens scheint, so ganz und gar unzeitgemäß ist sie auch. Denn wer hat schon die Muße, seinen mühsam verdienten Urlaub im Schweiße seines Angesichts – und seiner Füße – zu verbringen? Wer kann schon den mannigfaltigen Versuchungen der Reiseindustrie standhalten, die uns mühelos in entlegene Kontinente bringt, um dort die großen Wunder der Natur und Kultur zu bestaunen? Und selbst wer im Stile Trojanows reisen wollte, wird es immer schwerer haben, Regionen zu entdecken, in denen er die Ursprünglichkeit einer echten Reise verwirklichen kann.

Aber vielleicht muss es ja auch gar nicht gleich eine spirituelle Grand Tour sein; vielleicht kann man ja auch klein anfangen, indem man zunächst einmal bei dem schon gebuchten diesjährigen Sommerurlaub ein bisschen an der inneren Einstellung arbeitet. Denn nur an ihr hängt, ob eine Reise zu einer weiter bringenden Erfahrung wird oder ein bloßer Konsumartikel bleibt; ob uns verändert und auf diese Weise hilft, das in unserer Seele noch verborgene Potenzial zu entfalten; oder ob sie nur unser Ego aufbläht, das sich nun rühmen darf, auch mal in New York oder auf Hawaii gewesen zu seinEs ist also eine Frage der Einstellung, ob eine Reise ihren Namen verdient oder nicht. Und daran kann auch der Pauschaltourist und Kreuzfahrer arbeiten. Denn am Ende steht es auch ihnen frei, bei Bus-Stopp oder Landgang eben nicht das übliche Hechel-Hechel-Schnell-Programm zu durchlaufen, sondern einfach mal am Ort zu bleiben, sich von der Gruppe abzumelden, um in ein Einheimischen-Café zu gehen, einmal hinter die Fassade zu blicken oder einfach nur das Treiben der Fremde in sich aufzunehmen. Schon so ein kleines Abenteuer kann aus einem Touristen einen Reisenden machen, aus einem Zuschauer einen Betroffen, aus einem Gedankenlosen einen Geistreichen, aus einem Zerfahrenen einen Erfahrenen, aus einem Zurückgebliebenen einen Aufgebrochenen.

Das kann man üben. Schon diesen Sommer. Wie wäre es, einmal in der Erwartung loszufahren, dass diese Reise Sie zu einem Ziel bringen wird, von dem Sie heute noch gar nichts ahnen – eines, das Ihre Seele zu Fuß und ohne Gepäck erreichen wird, wenn sie sich denn in diesem Urlaub endlich einmal — gehen lässt.

06 Handtaschen_Philosoph_13-10-22•.inddZur Person: Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen, denn: “Nicht denken ist auch keine Lösung”.
Aktuell ist der Kleine Alltagsphilosoph erschienen. Er gibt eine kluge und unterhaltsame Orientierung bei allen möglichen Fragen des modernen Lebens. Was bedeutet eigentlich heute Freundschaft – angesichts von 714 Facebook-Freunden? Was ist Glück? Bin ich ein Egoist, wenn ich mich mal nur um mich kümmern will? Oder auch: Woran erkennt man guten Sex? Diese und viele weitere spannende Fragen beantwortet der Autor, indem er abendländische Philosophen und Denker klug zu Rate zieht. Letztlich geht es um Fragen nach den Grundlagen des Zusammenlebens, nach menschlichen Werten, die doch über die Jahrtausende seit Platon dieselben geblieben sind, aber dennoch vor dem Hintergrund des heutigen Zeitgeists neu beantwortet werden müssen. Das Buch besticht durch typische Fragestellungen aus dem richtigen Leben, mit denen sich jeder identifizieren kann. Die Antworten sind ebenso ratgeberisch wie unterhaltsam. Als Zugabe wird jeder zitierte Philosoph kurz und einprägsam portraitiert.

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