Überraschende Welten entdecken
<Von Gisela Minz. „Plötzlich war die Welt eine andere.“ Mit diesem Satz erklärt der BildhauerDieter Kränzlein 22 Jahre nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 die damalige Katastrophe. Dieter Kränzlein und sein Künstlerfreund Frederick D. Bunsen hatten damals zeitgleich gerade eine Ausstellung in Portland/Oregon beendet. Die Objekte der Ausstellung sollten danach im Kunstzentrum Karlskaserne in Ludwigsburg gezeigt werden, blieben jedoch im Chaos der Zeit rund um das Attentat in den USA verschollen. So schufen die beiden Freunde, selbst noch geschockt, unter dem Eindruck einer verstörten und zerbrochenen Welt eine Installation, die diesen traumatisierenden Erfahrungen Rechnung trug. Es entstand in der Reithalle Ludwigsburg in Anlehnung an einen sakralen Raum etwas bedrückend Düsteres. Etwas, was die Bilder des Dramas in den Köpfen der Menschen reflektierte. Die beiden Künstler mussten intuitiv etwas aus dem Nichts kreieren. Das, was mir sehr wichtig erscheint ist, dass ein Forum da war, auf dem Menschen in einen Austausch über das Geschehene kommen konnten.
Im Herbst 2023, 22 Jahre nach dem verheerenden Schrecken des 11. September 2001, arbeiten die beiden Künstler zwar mit ähnlichen Materialien wie Asche, Holz und dunklen Steinplatten, mit denen sie wieder einen sakral-ähnlichen Raum gestalten, doch zeigen sie darin Gegensätze zwischen hell und dunkel und Formen, die Leben und Lebendigkeit erkennen lassen. Insbesondere die Eiform (Ei als Lebenssymbol) und das „Altarbild“, wie die beiden es nennen, lassen meine eigenen Interpretationsmöglichkeiten zu. Das ist zunächst die sehr neutrale Betrachtungsweise eines Objektes, die allerdings schon beim ersten Betrachten Tiefenschichten erkennen lässt, die wie in einer „Partitur“ zusammenklingen. Der Eindruck des Zusammenklingens und auch der Dissonanzen wurden von Bunsen und Kränzlein in einer Performance mit Klangelementen erfahrbar gemacht. Hier mehr.
Das, was sich im Weltgeschehen zeigt, kann zur gleichen Zeit tief im Innern einzelner Menschen schwelen. In dem Bewusstsein, „dass alles, was ich tue eine Wirkung hat“ (Charles Eisenstein, Philosoph, u.a.), macht es Sinn, den hellen zarten Klängen zu folgen und „Im Chaos den Focus zu halten“. (newslichter.de, Bettina Sahling, 5. Februar 2024)
Der bekannte Eskimoschamane Angaangaq bietet Hilfen aus seiner Tradition an. Er sagt und schreibt in seinen Büchern: „Was wir der Welt geben können, ist unser Wissen darum, wie wir den Geist der Menschen beflügeln können: Wir können sie dahingehend unterstützen, ihnen die Augen zu öffnen für die unglaubliche Schönheit, die uns umgibt – diese Schönheit die wir entdecken können, wenn ein Mensch lächelt. Oder wenn Menschen gemeinsam lachen.“ Er zitiert die Weisheiten seiner Großmutter Aanakasaa: „Beobachte und sei achtsam, was draußen geschieht – in dir drin.“
Beim synoptischen Betrachten verschiedener Objekte in meinem Umfeld, lassen sich Strukturen erkennen, die das Wesen von Bildern, Fotos, Gemälde, Skulpturen, Installationen, etc.) ausmachen. Als Beobachter oder Beobachterin greife ich auch auf Erinnerungen zurück und verknüpfe innere Bilder mit Texten und Wahrnehmungen. Ich stelle Vermutungen an. Gleichzeitig entdecke ich in den Dingen, die mir zufällig „begegnen“ synchronistische Elemente.
Der Fotograf Sven Niederhat im Juli 2009 die Zeremonie des Heiligen Feuers des Eskimoschamanen Angaangaq fotografisch begleitet und durch seine brillianten und einfühlsamen Fotos bemerkenswerte Kunstwerke und gleichzeitig zeitgeschichtliche Dokumente geschaffen. Für die Zeremonie des heiligen Feuers hatte Angaangaq mit Assistenz seiner damaligen Mitarbeiterin Oona Soleil Leibundgut Schamanen und Schamaninen aus allen bewohnten Kontinenten der Erde eingeladen. Gemeinsam mit weiteren Weltbürgern wollten sie auf die Bedeutung des Klimawandels aufmerksam machen. (Klappentext des Buches HEILIGES FEUER – Schamanen und Älteste für die Welt, 2010)
Betrachte ich ein Foto mit Holzscheiten einer Feuerstelle, so sehe ich dort ähnliche Strukturen wie in Bunsens Gemälde „Partitur“. Auch in den Steinen, die das Feuer umgrenzen, sehe ich diese Elemente wieder. Sie liegen aufgeschichtet und umranden das Feuer oder begrenzen eine Feuerstelle mosaikartig, wobei die Ritzen mit Erde verfugt sind. Einige Menschen sitzen oder stehen im Kreis um dieses Feuer. Andere Fotos zeigen langsam zerbrechendes Eis. Es sind riesige Gletscher, deren Bruchlinien sich durch(kreuzen). Sie zeigen an, dass der Gletscher sich langsam bewegt. Weitere Menschen sitzen dem röhrenden, knarzenden, tauenden Gletscher gegenüber und beobachten ihn. Auch die Felsen, auf denen die Beobachter sitzen zeigen ähnliche Risse. Pflanzen und das raue, unwirtliche Wetter haben dort ihre Spuren hinterlassen und den harten Felsen erodieren lassen.
Solche Beobachtungen lassen sich vielerorts machen. Es gibt unterschiedliche literarische, bildliche oder musikalische Zeugnisse, die versuchen solche Verwerfungen, Verwundungen oder Veränderungen um uns herum zu heilen, zu reparieren oder neu zu gestalten.
„There is a crack in everything, that’s where the light comes in!“
So singt Leonard Cohen und erinnert damit an „tikkun olam“, die Heilung der Welt. Die amerikanische Rabbinerin und Psychotherapeutin Tirzah Firestone erzählt in ihrem Buch Wounds into Wisdom (2019) die Legende der zerbrochenen Kessel. Tikkun olam benennt unsere Aufgabe: Das in den Scherben dieser Welt verborgene Licht zu entdecken – ganz gleich, wo es versteckt ist. Darüber hinaus spricht sie von unerwarteten Wegweisungen in die Zukunft. „Our wounds can yield new wisdom, release hidden sparks of light and open up unexpected paths to the future.“
Kintsugi ist die japanische Kunst, Zerbrochenes wieder zusammenzusetzen. Es bedeutet sprichwörtlich „goldenes Zusammensetzen“. Auch das ist eine Sichtweise, die nach vorn schaut, die Wunden respektiert und die Narben mit Gold hervorhebt.
Der Philosoph und Theologe Christoph Quarch, der eng mit dem Eskimoschamanen Angaangaq zusammenarbeitet, zeigt eine Verbindungslinie vom schamanischen Denken zu den Vorsokratikern und damit zur griechischen Philosphie. Als christlicher Theologe nennt er den Bezug zum Pfingstgeschehen und fasst zusammen: „Auch meine Tradition verbindet das Göttliche mit dem Feuer. Das Widersprüche vereint, das Gegensätze verschmilzt, mit dem Feuer, das alles umfasst. Mit dem Feuer, dass … die Liebe ist.“ Es lohnt sich den Weisheiten der Schamanen, den Fotos und Erfahrungen, die in den Texten des Buches beschrieben werden gedanklich zu folgen, weil sie eigene Erfahrungen wachrufen.
Die überall sichtbare Zerbrochenheit erfährt durch das Entzünden des heiligen Feuers eine Umwandlung in der Betrachtungsweise. Angaangaq weiß aus einer Prophezeiung seiner Ahnen, dass das Eis in Grönland schmilzen wird. Seine und unsere Aufgabe sieht er darin, das Eis in den Herzen der Menschen mit der Energie der Liebe zu schmelzen. Dazu ist das heilige Feuer in Grönland entzündet worden. Erzwingen lässt sich das nicht! Angaangaq möchte die Menschen durch seine Geschichten zu einem liebevolleren Leben mit sich selbst und anderen im Gleichgewicht mit der Natur ermutigen.
„Plötzlich war die Welt eine andere!“ Mit diesem Satz des Künstlers Dieter Kränzlein habe ich denText begonnen. Warum muss ich bei diesem Satz unbedingt an eine zerbrochene Welt denken? In dem beschriebenen Kontext ist die Sache klar. Sehe ich den Satz isoliert, habe ich mehrere Entscheidungsmöglichkeiten. Ich kann einen anderen eigenen Weg gehen. Angaangaq möchte nicht, dass man ihn nachmacht. Er weist wieder auf eine Weisheit seiner Großmutter hin: „Folge also nicht jemandem, nur weil du meinst es ihm nachzutun. Kreiere deinen eigenen Weg.“ Er selbst hat den Weg des Herzens gewählt. Er hat sich entschieden jeden Tag mit Freude zu begrüßen, sein Bestes zu geben und die Unwägbarkeiten als Herausforderung, als Chance zur Weiterentwicklung zu sehen. „Und so bin ich in völliger Achtsamkeit im Hier und Jetzt, nämlich immer im jeweiligen Moment. Nicht früher, nicht später, nicht morgen nicht gestern.“
Als Künstler bewegt sich Frederick Bunsen unermüdlich in seinem Schaffen zwischen den Polen von Grenze und Entgrenzung, Spannung und Entspannung, Vergänglichkeit und Neuwerdung. In einer besonderen Kunstaktion in der Kirche St. Fidelis in Stuttgart (10. – 26. November 2023) überraschte Bunsen damit, dass er den Kirchenraum leergeräumt hatte. Hier ging es ganz im Sinn des christlichen Konzepts der kenosis (griech. Leerwerden, Entäußern), um Raum für neue Gedanken, Inspirationen, Hoffnungen und Gottes Gnade zu schaffen.“ (Christ in der Gegenwart, Johanna Beck, 26. November 2023)
Die Kirchenbesucher wurden vom Künstler und vom Pastoralteam mit einbezogen oder konnten Raum und Geschehen auf sich wirken lassen.
Obwohl ich nicht in persona da sein konnte, inspirieren mich die Fotos, Programme, ja die einfachen Begleittexte so sehr, dass sie mir bei meinen bisherigen Überlegungen zu wertvollen Impulsen geworden sind und mich weiterhin als innere Bilder begleiten. Diese Kunstwerke, Wörter und Texte bleiben so stets lebendig und werdend – auch dann wenn der Künstler, die Künstlerin ein Projekt bereits beendet hat. Beendet hat? Geht das überhaupt? In der Kirche St. Fidelis zeigten die Asche und der aufsteigende Rauch der Feuerschale etwas, was die amerikanische Meditationslehrerin Trudy Goodman wie folgt beschreibt: „No matter what comes up, the practice is to keep the ember of loving awareness from going out. The ultimate expression of dedication to this work is found in my growing confidence and trust in the process.“
Es ist meine Weise mich einem Kunstwerk zu nähern, mit ihm in einen Dialog zu treten, sowie Strukturen und Verknüpfungen zu erkennen, um dann „in einem Meer von Chaos kohärente Inseln zu entdecken.“ (newslichter.de, Bettina Sahling, 5. Februar 2024)
„Dürfen wir vielleicht hoffen, dass durch die Risse in unserer zerbrechenden Welt uns schon der frische Wind einer unvergleichlich weiteren neuen Welt entgegenweht.“ Bruder David Steindl-Rast OSB
„Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie entwickelt sich. An einem Tag der Stille kann ich sie hören.“ Arundhati Roy
Bitte!! Eskimo ist das weiße Wort für Inuit!! Angaangaq ist grönländischer Schamane der (grönländischen) Inuit.