Wo die Not begann – Friedensweg Körperkontakt

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Für die Allerkleinsten. Rund um die Uhr. Vor Jahren las ich das Buch von Kirsten Armbruster „Starke Mütter verändern die Welt“. Saß am See und die Tränen liefen. Es schüttelte mich, dass ich erst jetzt begriff durch die Zugänge, die Kirsten Armbruster in ihrem Buch teilt: dass unsere Menschheitsgeschichte groß und weit ist. Dass die alltäglich „Geschichte“ genannte Zeit nur das allerkürzeste Ende dieser Anwesenheit von Menschen auf Mutter Erde ist. Dazu musste ich vierzig Jahre alt werden. Und dieses Buch entdecken. Niemand, kein Mensch hatte im Schulunterricht diese Draufsicht auf die Menschheitsgeschichte thematisiert. Und doch hatte ich an diesem „Schule“ genannten Ort dreizehn Jahre lang, Wochentag für Wochentag, Monat für Monat, Jahr für Jahr meine Lebenszeit verbracht. Lebendige Zusammenhänge wurden da nicht geboten. Statt dessen betrachteten an der weiterführenden Schule sämtliche Fachlehrer wie unsere selteneren Fachlehrerinnen durchgehend „ihr“ Fach als das einzig wichtige. Ein Wettstreit voller Abgrenzung. Gelernt haben wir für die jeweiligen fachinternen Tests und Prüfungen. Kaum je aus Lust und Interesse. Um dann, nach dem Test, das allermeiste gleich wieder zu vergessen. Ins Langzeitgedächtnis geriet uns wenig von den meist dröge und alltagsfern an der Tafel dozierten, als wichtig behaupteten Inhalten. Das wirkliche Fragen, Sehen, Verstehen, das allmähliche Begreifen der Welt, von Zusammenhängen und Alltäglichkeiten anderer wie der eigenen Zeiten, eroberte sich erst später. Viel später. In meinem größeren werdenden Abstand zu Schule und ihren standardisierten Ansagen.

Maria Gimbutas und ihre Forschung entdeckte ich bald auch. Sie sagt, wir hätten gute Gründe von 1 Milllion Jahre Menschheitsgeschichte auszugehen. Von denen die als „Geschichte“ bezeichnete Zeit nur das kürzeste Ende ausmacht – das gleichwohl den alltägliche Bezugsraum für unsere Menschen-Welt-Vorstellung gebildet hat. Das können wir allmählich besser wissen. Und es täte uns gut.

Denn solange wir noch glauben, das in Schulunterricht wie der gängigen Literatur und an beinah jeder Straßenecke zu vernehmende „Krieg hats immer schon gegeben“ entspräche den Tatsachen, werden wir uns schwerlich aus unserem ratlosen Schulterzucken, unserem altbekannten Gefühl von Machlosigkeit, einem „da kann man ja eh nix machen“ Denken oder Sprechen herauslösen. Woher können also grundlegend neuen Einsichten kommen? Ich mag das Goethe Wort „Gegen Denken lässt sich in der Tat nichts sagen, nur, dass es eine Arbeit ist, die jeder selbst leisten muss.“ Es macht mich lachen. Und berührt dabei einen Aspekt, der mir so wesentlich scheint: das eigene Welt-Wahrnehmen wiedererstehen zu lassen. Es braucht für meinen Geschmack die Klarheit und Entscheidung, meine eigenen Impulse und Ideen, Fragen und Rätsel, die in mir wohnen, wieder lebendig da sein zu lassen. Und nach den Zusammenhängen selbst zu schauen. Auf meine Weise zu ergründen, was die Welt im innersten zusammen hält. Könnte ich es anders begreifen als durch meinen ureigenen, in mir wohnenden Zugang? Mir scheint: nein. Jedenfalls nicht, wenn ich stabil und klar anwesend und wirkmächtig in meinem Menschsein mich ausbreiten will.

In all den Jahren, die sich meinem Weinen am See anschlossen, war für mich klar, der behauptete Bezugsraum für Erkenntnisse über „den Menschen“, „die Geschichte“ bezieht sich klassisch einzig auf den kurzen Abschnitt menschlicher „Kultur“ der letzten vier- bis sechstausend Jahre. Irgendwann vor einigen tausend Jahren muss ein Bruch entstanden sein. Doch was hat zu diesem Bruch geführt? Eine mögliche Orientierung schien mir der historische Zeitpunkt des sesshaft Werdens der Menschen. Doch mehr hatte sich mir noch nicht erschlossen. Nichts konkreter Greifbares, das mir die Sache anschaulich gemacht hätte, warum wir in unseren sozialen Fähigkeiten in Gemeinschaft zu leben in die Not hineingeraten waren von Gewalt, Krieg, Zerstörung. Wann und wie hatte dieses Desaster seinen Anfang genommen?

In meiner Jugend hat mir meine hoch einfühlsame Mutter ihr ausgeprägt psychologisches Menschenbild nahe gebracht. Und auch die Betrachtung von menschlichen Irrwegen in Not, die durchaus im einzelnen biografischen Ausdruck erklärbar, verstehbar sind, führten mich rückwärts zu der Frage: und wann bitte hat es begonnen mit der Gewalt? Zu sehen, dass Menschen durch ihre eigene Not wiederum Not über andere bringen, macht doch logisch die Frage auf: wo war der Anfang dieser fortgesetzten, weitergereichten Dauernotfallschaltung, die in uns allen mehr oder weniger aktiv ist.

Während ich meine eigenen Nöte durch fortgesetzte Heilungsarbeit in allmähliche Wandlung und Lösung führte und führe, hatte ich gleichzeitig aus verschiedenerlei Richtungen jeweils dieses Rätsel angesteuert. Diese Frage, wann und wie hat das alles begonnen.

Und mein Anlass heute, diese eigenen Wege zu beschreiben und zu teilen, ist ein Aha-Erlebnis, das mir kostbar und wertvoll ist. Beinah zwei Jahrzehnte seit meine unbeantwortete Frage gleichsam täglich neben mir her geht, wurde mir an einem Tag in diesem Januar ein ganz besonderes Puzzelstück der Aufklärung in mein Leben geschenkt. Auf dem Kongress „Revolution der Kinder“ von Lisa Wolf (Freiburg) hörte ich ihr Interview mit Dr. Franz Renggli (* 1942). Der seit Jahren und Jahrzehnten praktiziert und forscht. Bücher veröffentlicht. Ausbildet. Menschen und Gruppen begleitet. Und sehr genau beschreibt, was uns in die heutige Lage der inneren Not gebracht hat. Seine Erklärung ist naheliegend. Erschreckend. Und wegweisend.

Er berichtet, wie mit den Städtegründungen der Sumerer vor etwa 7000 Jahren die Entfernung / Ablösung der Säuglinge aus dem lebensdienlichen, ur-not-wendigen Körperkontakt beginnt. Der vor aller Städtegründung vollkommen selbstverständlich war. Rund um die Uhr. Tag und Nacht wurden Kinder am Körper getragen, gehalten. Doch Schritt für Schritt werden nun die Säuglinge aus ihrer notwendigen Urverbundenheit abgeschnitten.

Wir Menschenkinder kommen weit vor unserer Reife zur Welt. Wir müssen noch durch das Becken unserer Mutter hindurch passieren können, das angesichts des aufrechten Ganges relativ schmal ist. Und so brauchen wir – beinah – dasselbe, was auch ein Känguru-Baby nötig hat. Das Getragen werden am Körper. Fortlaufend.

Wir haben vergessen, dass das unsere Urnatur ist: Stetiger Körperkontakt allein ist es, der dafür sorgt, dass wir „stabil gebunden“ heranreifen, als allein auf uns gestellt nicht lebensfähige Säuglinge. Und dies brauchen wir für lange Zeit unseres Baby-und-Kleinkindalters. Mit einer allmählich entstehenden freien, spontanen gelegentlichen Lösung für Augenblicke AUS dem sicheren Raum der bergenden, beruhigenden, lebensstiftenden Verbundenheit mit Mutter oder anderen Fürsorge tragenden Älteren. Das können auch Geschwister, Vater, weitere Vertraute sein.

Ein Detail der europäischen Verirrung in Sachen Körperkontakt des Säuglings, Babys, Kleinkindes ist der historische Moment, in dem im 13. Jahrhundert von den Kanzeln der Kirchen gepredigt wird, Kinder dürften nicht im Bett mit der Mutter schlafen. Denn die Mutter könne sich im Schlaf auf das Kind legen und es ersticken. Mit dieser „Gesetzgebung“ von der Kirchenkanzel wird auch das allerletzte Überbleibsel der lebensdienlichen Verbundenheit mit dem Körper der Fürsorge tragenden Person des nachts für das Neugeborene, Baby und Kleinkind zunichte gemacht. Zwischenschritte vorab waren unter anderem gewesen: Wiege, eigenes Zimmer, Kinderwagen, …

Ich erinnere mich, dass meine Freundin Marie ihre Kinder die ersten langen Jahre mit im Ehebett schlafen ließ. Irgendwann wurde ein weiteres Bett als Verbreiterung ergänzt, sodass alle vier Menschen Platz darin hatten. Sie hat damit die Tradition gelebt, die sie als Wahl-Isländerin in ihrem Sehnsuchtsland kennen gelernt hatte. Die Kinder schlafen dort offenbar bis sie sieben oder acht Jahre alt sind mit den Eltern im großen Familienbett. Ich beginne jetzt durch Franz Rengglis Einsichten zu begreifen, wie elementar auch ich als Mama vor dreißig Jahren noch alten Irrtümern aufsaß. Während ich glaubte, im Tragtuch tragen, viel kuscheln, auf den Schoß nehmen, ein Jahr lang stillen, sei schon so großartig, richtig, wichtig und wunderbar.

Und nun stellt sich heraus, dass die wirkliche Veränderung und Heilung erst noch enstehen will. Mütter, die sich wiederverbinden mit dem Weg, der so viele tausende von Jahren unterbrochen war. Nach diesem zerbrochenen Weg, der uns über diese so lange Zeit alle zu nicht sicher gebundenen Menschenwesen gemacht hat. Ich beginne zu begreifen, wo es mit der Not begonnen hat, die in unseren Zellen wohnt. Eine hohe Not, die durch uns ge- und erlöst werden will. Die jetzt, heute, einen lebensdienlichen Friedensweg finden kann. Mit einer Generation Mütter, Väter, Eltern, Familien, in denen die ur-not-wendige Verbundenheit der kleinen Menschenkinder mit dem sichernden, stabilisierenden Heimatkörper der Großen wieder hergestellt wird, die so lange im Mangel war.

Glücksgefühl weitet mein Herz: meine beiden Nichten, die in unserer Familie den Reigen der nächsten Generation eröffnet haben, leben diesen Weg voller Selbstverständlichkeit. Im Zusehen staune ich. Und freue mich unbändig über die beiden Mütter und ihre kleinen Menschenkinder, die mit Körpernähe gesegnet aufwachsen, die mir als junger Mama noch unvorstellbar war. Wundervolle Horizontweitung, die mir dank Franz Rengglis Einsichten offenbart hat, worum es geht.

…………….

Dr. Franz Renggli studierte und forschte im Fach Zoologie. Nach seiner Promotion wurde er Psychoanalytiker um dann einen heilsamen, Not lösenden Weg als Körperpsychotheut zu entwickeln. In seiner Basler Praxis begleitet er Paare und Familien und arbeitet mit Gruppen. Dr. Franz Renggli hält Vorträge, gibt Interviews und ist Autor diverser Bücher.
Franz Renggli im Interview mit Evelyn Maucher

Franz Renggli, „Verlassenheit und Angst, Nähe und Geborgenheit. Eine Natur- und Kulturgeschichte der frühen Mutter-Kind-Beziehung“, erschienen 2020 im Psychosozial Verlag

https://www.franz-renggli.ch

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10 Kommentare zu “Wo die Not begann – Friedensweg Körperkontakt
  1. Andra Susi Geburzi sagt:

    Danke für diesen berührenden und wertvollen Beitrag!
    Ich bin seit über dreißig Jahren als Hebamme tätig und kann diesen Ansatz nur bekräftigen. Es ist mir seit Jahren ein Anliegen werdenden Eltern und Anderen dies wieder und wieder zu empfehlen.

    • Miriam sagt:

      Sehr gerne, liebe Andra! Freu mich, dass du berührt und verbunden bist mit diesem Weg. Ein Hoch auf die weisen Frauen der alten wie der neuen Zeit. Wie schön, dass du als Hebamme deine Berufung lebst und werdenden Eltern und Anderen wieder und wieder das Nächstliegende, Heilsame ans Herz legst. Herzlich, Miriam

  2. Jutta Hoppe sagt:

    Danke für diesen wunderschönen Artikel. Es könnte auch meine Geschichte sein. Ja, der Körperkontakt und das „Sehen“ des neuen Menschen mindestens bis zum 6. Lebensjahr. Und schon gibt es Frieden auf dem Planeten.

    • Miriam sagt:

      Gerne, liebe Jutta – wie schön dieses Begreifen, Erkennen verbunden zu genießen! Zu sehen, wie der Weg sich zu öffnen vermag in unser Sein im Frieden. Liebe Grüße!

  3. Liebe Miriam, deine Worte berühren mich und passen perfekt zu dem, was mir die Filmemacherin und Matriarchatsforscherin Uscha Madeisky in einem Gespräch erklärte. (https://www.andrea-goffart.de/2022/10/starke-frauen-sind-muetterliches-vorbild/) In vielen Matriarchate ist der von dir beschriebene Kontakt von Mutter und Kind völlig normal. Uscha dokumentiert das auch in ihrem neusten Film „40 Tage“ . Die Folge: friedliche Gemeinschaften, gesunde Menschen, verbunden im Ich und im Wir! Wie schön, dass deine Nichten das leben, welch eine Hoffnung auf Wandel.

    • Miriam sagt:

      Liebe Andrea, dank dir fürs Teilen deiner Verbundenheit und dein Weitergeben von Uscha Madeiskys Einsichten und Zugängen. Freu mich, deinen Links zu folgen … Klingt so kostbar! Herzlich, Miriam

  4. Gabriele sagt:

    Liebe Miriam,

    Danke für diese wunderbare Zusammenfassung.
    Hintergründe und Zusammenhänge wurden mir dadurch gerade wieder neu vor Augen geführt. Ich kenne auch die Betrachtungsweise von Franz Renggli und sehe sie als wegweisend für unseren Umgang in der Familie und letztlich in der großen Gemeinschaft.
    Hierzu gibt es auch ein sehr inspirierendes Buch von Sobonfu Somé, „Die Gabe des Glücks“ Rituale für ein anderes Miteinander, das aus dem Kontext des westafrikanischen Dorfgeschehens heraus erzählt und die Weisheit vieler Generationen aufzeigt.

    Dabei schaue ich zurück und freue mich an den kleinen Schritten die ich vor 34 Jahren mit meinen beiden Söhnen gehen konnte, vertrauend, dass mir meine natürliche Intuition schon den „richtigen“ Weg aufzeigt.
    So schält sich im Laufe der Jahre das Wesentliche heraus und darf sich mitteilen und offenbaren.
    Danke dir herzlich, Gabriele

    • Miriam sagt:

      Dank dir auch von Herzen, Gabriele für dein Teilen – das ist ganz wunderbar! Auch schenkst du mir die Erinnerung an Sobonfu Somés Buch, das ich auch einmal besaß. Das Thema Glück war so sehnsuchtsvoll in meinem Fokus damals noch. Es hat inzwischen lange begonnen, Platz zu nehmen in meinem Sein. Meinen inneren wie äußeren Räumen. Hergrüße zu dir!

  5. Miriam sagt:

    Eine Korrektur zum Text, die mir am Herzen liegt: Marija Gimbutas (1921-1949) heißt die große litauisch-USamerikanische Archäologin, Prähistorikerin und Antropologin (ihr Name jetzt korrekt geschrieben).
    Seit 2022 gibt es den ursprünglich englischen Dokumentarfilm „Die Geschichte der Archäologin Marija Gimbutas“ von Donna Read und Starhawk in deutscher Fassung SIGNS OUT OF TIME / Die Geschichte der Archäologin Marija Gimbutas – deutsche Fassung von Nana Sturm https://www.youtube.com/watch?v=sRnSYRPL4Ug
    Auch als DVD zu haben https://www.christel-goettert-verlag.de/produkt/die-geschichte-der-archaeologin-marija-gimbutas/

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