Selbstliebe – ein Mythos um ein Heiligtum

Lesezeit 8 Minuten –

Von Evelin Rosenfeld. Angst ist die Abwesenheit von Liebe. Wenn Selbstliebe nicht da ist, dann haben wir also Angst, „irgendwie“ zu sein. Etwa: Angst, schwach zu sein. Oder Angst, einsam zu sein. Oder Angst, traurig zu sein. Wir sind nicht bereit, unsere Schwäche, unsere Einsamkeit, unsere Trauer anzunehmen. Dieses „Nein“ zu unseren eigenen Gefühlen, zu unserer Bedürftigkeit und Scham verhindert Liebe. Auch die zu uns selbst.

Doch was heißt es, der Angst in sich selbst zu begegnen ? Wie kann sich Selbstliebe entwickeln ? Was hat es auf sich mit dem Mythos „Selbstliebe“?

Ein Missverständnis

Wir lesen viele Aufforderungen, uns selbst zu lieben. Etwa „Liebe findest Du nur in Dir selbst“ oder „Wer sich selbst nicht liebt, kann andere nicht lieben“.
Wenn wir allzu lange vergeblich nach Liebe gesucht haben, erscheint diese Aufforderung wie eine traurige Wahrheit. Und so beginnen wir, uns uns selbst zuzuwenden und uns Gedanken über die Dinge zu machen, die uns „guttun“, besuchen Veranstaltungen, in denen es darum geht, Zuwendung und Wertschätzung zu empfangen und beginnen, Eigenräume zu entwickeln.

Das mag ein paar leere Speicher – vor allem die der Sinnlichkeit und des „Habens“ – füllen. Ich halte diese Interpretation der Selbstliebe jedoch für ein fatales Missverständnis. Denn hier wird die Selbstliebe aus einem Gefühl des Mangels oder aus der Vorstellung der eigenen Versehrtheit heraus gesucht. Und damit zementieren wir die Überzeugung, etwas nicht bekommen zu haben, das wir brauchten. Auch wenn es uns (trotzdem) gelingen sollte, selbst für mehr Freude in unserem Leben zu sorgen, bleibt die Information in uns bestehen „ich habe es nicht (geschenkt) bekommen.

Diese Information – ein Kernglaubenssatz, der mir bei meiner Arbeit leider sehr oft begegnet – kann eine ganze Menge unerwünschter Folgen haben: von Egozentrik und Narzissmus bis hin zu einer subtilen bis frontalen Forderungshaltung in Beziehungen. Irgendwo in uns schwingt immer „ich bin alleine. Ich brauche Liebe. Und ich MUSS sie mir selbst geben.“ Ganz oft kommen meine Seminarteilnehmer/innen (auch) mit der Haltung, sich mit dem „Was Dir wirklich wichtig ist“-Prozess „etwas Gutes“ tun zu wollen. Ein bisschen Natur und Yoga, dazu jemand, der sich um einen kümmert, eine nette kleine Gruppe und eine schöne Reise… Dass die Arbeit aber genau hier beginnt – bei Vorstellungen wie „Ich wollte doch nur Liebe haben“ oder „Letztlich bin ich allein“ oder „Liebe müssen wir uns letztlich selbst geben“ – ist oft erst einmal eine Überraschung gegen die eine Menge Widerstand aufgebracht wird.
Denn es geht nicht darum, sich mit positiven Affirmationen vollzustopfen, bis all die Hilflosigkeit und Leere in uns nicht mehr wahrnehmbar ist. Im Gegenteil: Es geht darum, der Seele wirklich zu lauschen, zu verstehen, was sie uns zuruft, wenn wir in unsere Bedürftigkeit oder Scham zu fallen drohen. Und es geht darum, sich genau diesen Ängsten zu stellen. Denn sie sind die Ursache für das „nein“ zu uns selbst – oder wenigstens den schwachen Seiten. Und dieses „nein“ verhindert Liebe. In jede Richtung.

Entsprechend „stark“ sind auch die Übungen, die wir mit Stöcken und Steinen, Schluchten und Feuer bisweilen machen. Denn die Vorstellungen von Mangel und Anspruch sitzen wie ein eiserner Ring um unsere Seele herum, sie vermeintlich schützend und es braucht einige Energie, um die Angst zu zerschlagen und den Weg zur Liebe frei zu machen. Dann entsteht der Zugang zum eigentlichen Seelenanliegen. Selbstliebe als Ersatz oder Voraussetzung für erfüllende Beziehungen zu verstehen, führt uns also nicht in einen wünschenswerten Zustand.

Selbstliebe als Hingabe

Dem Phänomen der Selbstliebe kommen wir eher auf die Spur, wenn wir sie als erfülltes und gefördertes So-Sein verstehen. Eine Selbstwahrnehmung also, die ehrlich untersucht, wer wir sind und erst einmal akzeptiert, was sie vorfindet. Das ermöglicht uns, die eigenen Schatten zu sehen, offen zu ihnen zu stehen statt sie zu verbergen oder zu bestreiten – und uns mit lächelnder Strenge in deren Überwindung zu üben.

Diese „radikale Selbstuntersuchung“ hilft uns die Lebensbereiche zu erkennen, in denen wir uns selbst belügen (und meist auch andere). Neben all den schönen und guten Dingen, die uns ausmachen, werden wir auch auf Ausflüchte, Begründungen, Projektionen, Vorwürfe, Resignation usw. treffen. Und letztlich auf das „nein“ das uns von der Liebe fernhält. Manchmal ist das nicht ganz leicht, denn natürlich haben wir für alles unsere Gründe. Und doch: Diese dunklen Ecken aufzufinden ist der erste Schritt in die Befreiung – und zur Selbstannahme. Denn erst, wenn wir unsere „Macken“ erkennen und volle Verantwortung für sie und ihre Konsequenzen in unserem Leben übernehmen, können wir unseren wahren Zustand erkennen.. Und dieser „Zustand“ enthält bei uns allen auch Bedürftigkeit und Scham. Zu ihnen zu stehen – und damit zu unserer Angst, nicht liebenswert zu sein, macht uns nackt.
Und stark.

In dieser Nacktheit können wir uns dem Leben hingeben, als die, die wir sind. Wir müssen nicht mehr festhalten an Rechtfertigungen und geschönten Selbstbildern. Auch nicht an Schuldzuweisungen und Forderungen. Hier stehe ich – jetzt – im Prozess – die werdend, die ich bin. Aufrichtig bemüht, zu wachsen. Aufrichtig erkennend, dass es Gegebenheiten in meinem Leben gibt, denen gegenüber ich ohnmächtig bin.

Und an diesem Punkt passiert etwas ganz Großartiges: Aufrichtigkeit und Ohnmacht führen uns zu einem tiefen Vertrauen in uns selbst und in das Leben. In das Göttliche, das, was größer ist, als wir selbst und unser Verstand. Das, was Liebe gibt mit jedem neuen Tag, mit jedem Atemzug, mit jeder Empfindung, mit jeder Begegnung, die wir machen.

Selbstliebe um bereit für die Welt zu sein

Mit dieser Klarheit über selbst – in der Vielseitigkeit, die in uns wohnt und in den Grenzen, die wir erfahren – gelangen wir zu einer ruhigen, freudvollen Beziehung zu uns selbst. Im Einklang mit uns selbst und dem, was ist. Es ist völlig überflüssig, uns mit Affirmationen wie „Ich bin wer“ oder „Ich liebe und akzeptiere mich“ oder „Ich setze (anderen) Grenzen“ bei Laune zu halten. Diese „Chakkas“ sind nur von kurzer Dauer, solange wir sie uns selbst nicht glauben.

Unser Wille kann es eben NICHT richten.
Und damit auch keine Konditionierung, kein Verhaltenstraining, kein Mentaltraining.

Stattdessen will unsere Seele erreicht werden, die sich hinter der Vorstellung verschanzt hat, dass wir Liebe brauchen und nicht genug davon bekommen haben. Und dazu ist es nötig, durch diese Phase der Nacktheit zu gehen und der Ohnmacht. Dann sind wir offen, der göttlichen Gnade des Lebens zu begegnen und in ein grundlegendes Vertrauen zurückzufinden, dann, erst dann fließt uns die Kraft der Selbstannahme zu.

In einer solchen Verfassung ist es nicht nur möglich sondern ein natürlicher Impuls, sich der Welt zur Verfügung stellen zu wollen.

Denn es gibt keine Selbstliebe ohne Verbundenheit auch mit unseren Mitwesen.
Hier liegt das offene „Geheimnis“ der Liebe:
Liebe ist eine absolute Größe.
Sie hat keine Form, keine Richtung, keinen Zweck.
Sie ist eine Energie, mit der wir in Resonanz gehen können.

Diese einfachen Feststellungen offenbaren uns ein offenes Geheimnis, dessen Wahrheit in der heutigen Zeit verkehrter nicht sein könnte: Fülle entsteht nicht durch empfangen. Fülle entsteht dadurch, dass wir geben DÜRFEN was wir sind. Dass es jemanden oder eine Situation gibt, in der wirklich gebraucht und angenommen wird, was wir geben können.

Aus der inneren Gelassenheit und tiefen Dankbarkeit heraus („Ich bin unvollständig und in meiner aufregenden Entwicklung bestens versorgt“) erkennen wir die Bedürftigkeit und Versehrtheit der anderen und können in eine Resonanz gehen, die Klarheit und Kraft spendet.
Aufrichtige Selbstannahme hat all die Energie zur Verfügung, die bisher in der Suche nach der verlorenen Liebe verbraucht wurde.
Und vor allem legt sie offen, wer wir wirklich sind. Was genau wir zu geben haben.
Damit werden wir nicht nur für uns sondern auch für unsere Mitwesen sichtbarer.
Und es entsteht die Gelegenheit, zu geben.

Dies ist die Frequenz der Liebe – Selbstliebe wie auch die Liebe dessen, was ist.
Ein Heiligtum hinter einem Mythos.

Die wundervollen Photos zu diesem Beitrag stammen von der 22jährigen Ungarin Noell S. Oszvald. Hier mehr von ihr.

9783873875876nbs_large_160 Hintergrund: In dem Prozess „Was Dir wirklich wichtig ist“ (siehe Buch Was dir wirklich wichtig ist: Das Arbeitsbuch zum Personal Empowerment) gibt es einige sehr kraftvolle Übungen, die bei der Entwicklung wahrer Selbstliebe helfen. In den nächsten Wochen werden wir bei den newslichtern folgende Lichtübungen veröffentlichen:


Zur Person: Evelin Rosenfeld ist Coach, Beraterin und Autorin. Die ehemalige Konzernstrategin setzte sich in den letzten Jahren intensiv für einen greifbaren Wertewandel in Politik und Wirtschaft ein (s. Buchveröffentlichungen zum Wertebasierten Management). Vor allem aber arbeitet sie seit 13 Jahren nach eigener Methode („Was Dir wirklich wichtig ist – selbstbestimmt leben aus dem Wesenskern“; siehe Buchveröffentlichungen) als Transformationsbegleiterin. Neben üblichen „Sitzungen“ lädt sie sechsmal im Jahr kleine Gruppen nach Thüringen, Teneriffa und Thailand ein, um im Rahmen 14tägiger Auszeiten den Prozess kompakt zu durchlaufen. An drei ausgewählten Orten der Kraft verbindet sich psychologische Tiefenarbeit mit Schamanismus, spirituelle Praxis mit dem Wissen aus der fernöstlichen Heilkunst und die handfeste Neuorientierung in Beruf und Privatleben mit buddhistischer Lebensweisheit.

Mehr zu Person und Arbeit:www.evelinrosenfeld.de
Mehr zu den Auszeiten: www.seminar-und-reisen.de
Die kommenden Auszeit-Termine sind:
TENERIFFA 14.bis 28.September 2013
THAILAND: 28.12.2013 bis 11.01.2014 und 08. bis 22.Februar 2014
THÜRINGEN 3. bis 27.Juli.2014

Kennenlerntage in Berlin, München, Zürich, Bad Kissingen, Wien, Köln und Konstanz (aktuelle Veranstaltungen werden über den Newsletter bekanntgegeben, in den Sie sich hier eintragen können)

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Gastbeitrag
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6 Kommentare

  1. Ein faszinierendes Thema und ein wertvoller Ansatz, aber wo bleibt der Respekt für andere Möglichkeiten und Wege?
    Sogar der Papst sagte gestern: „Wer bin ich, dass ich urteile?“

    Ich glaube wir brauchen mehr Verbindung und weniger Abgrenzung, LG vom Klaus

    • Hallo Klaus, dank Dir für das Lob. Die Kritik bitte erläutere. Wo fehlt es Dir an Respekt ? Wo hast Du das Gefühl von Abgrenzung ? Herzlich aus Berlin, Evelin

      • Hallo Evelin,
        vielen Dank für deine Antwort.

        Ich empfinde diesen Satz als abgrenzend:
        [Zitat] Es ist völlig überflüssig, uns mit Affirmationen wie „Ich bin wer“ oder „Ich liebe und akzeptiere mich“ oder „Ich setze (anderen) Grenzen“ bei Laune zu halten. [Zitat/]

        Das mag dein Erleben und damit auch deine Meinung sein – mir haben Affirmationen sehr geholfen und ich nutze sie heute immer noch.

        [Zitat] Unser Wille kann es eben NICHT richten.
        Und damit auch keine Konditionierung, kein Verhaltenstraining, kein Mentaltraining. [Zitat/]

        Ich glaube, dass der Wille genauso entscheidend ist wie unsere Gedanken, Worte, Handlungen, unser Verhalten …

        [Zitat]Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden zu Worten.
        Achte auf Deine Worte, denn sie werden zu Handlungen.
        Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden zu Gewohnheiten.
        Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter.
        Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal. [Zitat/]

        LG vom Klaus

        • Lieber Klaus, ich vermittle mit meinem Beitrag die Techniken, von denen ich bei mir selbst und weit etwa 12 Jahren in der Begleitung anderer Menschen erlebt habe, wie unser „Kopf“ – unser gut sein WOLLEN uns unglaublich an der Nase herum führte und lediglich kompensierte, was eigentlich dringend der Ent-Deckung bedurfte.
          Diese Erfahrungen gebe ich hier weiter.

          Dass Du Deine persönliche Anders-Erfahrung daneben stellst, ist Dein Statement und es mag andere Erfahrungen geben, die Deiner entsprechen.

          Für das Zitat, das Du ans Ende stellst, bin ich regelrecht dankbar.

          Denn unser tatsächliches Er-Leben – nenn es „Schicksal“ – zeigen uns, was wahr ist und was nicht.
          … ich für meinen Teil bin hier äußerst zufrieden und dankbar.

          Hab einen schönen Abend, Evelin

  2. Liebe Evelyn,

    genau diesen Prozess lebe ich. Deine wertfrei Offenheit, uns selbst in der „Nacktheit“ unserer Seele zu begegnen, ermutigt genau dies zuzulassen. Die Auseinadersetzung mit Deinem Buch „Die Gaben der Unvollkommenheit“ haben mich zutiefst berührt, bestätigt und beREICHert. Das Thema „Selbstliebe“ habe auch ich lange Zeit missverstanden. Auch ich glaubte, mir Liebe „verdienen“ zu müssen – doch wie könnte/n ich/wir etwas „verdienen“ müssen, was ich/wir selbst BIN/SIND. Und um zu dem zu finden, WER und WAS wir SIND, gibt es nur den Weg des Sich-akzeptierenden-Hinwendens an all das, was da ist: neben all der Schönheit in unserem Leben ebenso unsere unerlösten Schatten, unsere Gefühle, die wir oft genug wie Kellerkinder behandeln (behandelt haben) und diesen einen Platz in unserem Herzen zu geben. HerzLichten Dank für diesen Beitrag! Weiterhin allen Segen für Deine so wertvolle Aufgabe, Aylah

    • Liebe Aylah, sehr herzlichen Dank für Dein Teilen und Dein Lob.
      Der Titel meines Buches ist allerdings „Was Dir wirklich wichtig ist“ 🙂

      Kellerkinder ans Licht !!! … und einen schönen Abend Dir und den Deinen.

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